Wer in Freiheit arbeitet, verdient mindestens zwölf Euro pro Stunde – so hoch ist der Mindestlohn. Häftlinge verdienen weniger: In Nordrhein-Westfalen grundsätzlich zwischen elf Euro und 18,30 Euro - am Tag. Das entspricht einem Stundenlohn von durchschnittlich etwa 1,80 Euro. Zusätzlich erarbeiten sie sich freie Tage.
Dagegen hat sich unter anderem ein Häftling aus der JVA Werl gewehrt. Er hat Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt. Das Gericht hat am Dienstagvormittag geurteilt, dass die bisherige Vergütung mit nicht dem Grundgesetz vereinbar ist.
Kein klares Resozialisierungskonzept
Die derzeitige NRW-Regelung sei nicht widerspruchsfrei, so die Verfassungsrichter. Es kann aus den Gesetzen nicht klar entnommen werden, wie in NRW die Gefangenen resozialisiert werden sollen. Auch die Rolle der Arbeit werde nicht deutlich. Der Landesgesetzgeber könne aber selbst festlegen, wie er Gefangene resozialisieren möchte.
Ein Mittel kann die Arbeit sein – wenn, dann muss die Vergütung aber hoch genug sein, um den Häftlingen den Mehrwert von Arbeit zu zeigen. Das kann durch höheren Lohn geschehen, aber auch durch andere Mittel, wie etwa mehr freie Tage.
Und: Das Land könnte den Häftlingen höheren Lohn für die Arbeit zahlen, aber sie dafür im Gegenzug an den Kosten beteiligen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dürfte auch deshalb für alle 16 Bundesländer wegweisend sein.
Gefangene arbeiten in Knastwerkstätten
In nordrhein-westfälischen Gefängnissen besteht bislang eine Arbeitspflicht. Das ist laut Grundgesetz nur bei Häftlingen möglich. Auch der Mindestlohn gilt nicht und Gefangene dürfen keine Gewerkschaften bilden.
Im Jugendgefängnis sind auch Ausbildungen möglich
In NRW sind Häftlinge meist in einer JVA-eigenen Werkstatt tätig. In der JVA Remscheid wird beispielsweise die Anstaltskleidung für ganz NRW genäht, anderswo werden Möbel hergestellt. Es gibt aber auch Werkstätten von externen Unternehmen.
Privatunternehmen lassen zu üblichen Preisen fertigen
Dort schrauben die Häftlinge etwa Produkte für die Auftraggeber zusammen. Der Flugzeugbauer MTU und der Hersteller von Gartenwerkzeugen Gardena haben etwa bereits in Gefängnissen fertigen lassen.
Die Unternehmen zahlen der Justiz dafür Geld. Der Preis orientiert sich an dem, was derartige Aufträge auf dem freien Markt kosten würden. Die Unternehmen zahlen laut Recherchen einen Satz, der etwa zwischen dem liegt, was sie in Fernost und auf dem heimischen Markt zahlen würden.
Die Häftlinge bekommen trotzdem nur den niedrigen Stundensatz ausgezahlt, der Rest geht ans Land. Von dem, was die Häftlinge verdienen, müssen sie einen Teil für die Zeit nach der Entlassung ansparen, Schulden abbezahlen oder Unterhalt für Angehörige leisten. Und sie können damit beim Anstaltskaufmann einkaufen.
WDR-Recherche: Essen beim Anstaltskaufmann ist teuer
Recherchen des WDR für das ARD-Magazin Plusminus haben gezeigt: Der Aufwand des Kaufmanns ist zwar hoch, die Preise für Grundnahrungsmittel in der JVA liegen aber teils erheblich über dem, was man im Supermarkt in Freiheit bezahlt – trotz des geringen Lohns der Gefangenen.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
Juristisch kam es beim Bundesverfassungsgericht darauf an, ob die Vergütung mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Häftlinge berufen sich auf ihr Recht auf Resozialisierung. Entscheidend ist also vor allem: Fördert die Knastarbeit mit dem aktuellen Lohn noch ausreichend die Wiedereingliederung in die Gesellschaft?
Keine Rentenversicherung für die Knastarbeit
Kritiker verneinen das seit Jahren, etwa der Verein „Gefangenen-Gewerkschaft GG/BO“. Er hielt auch die NRW-Regelung für verfassungswidrig. Der niedrige Lohn schaffe keinen Anreiz zur Arbeit. Dabei solle Arbeit den Gefangenen gerade vor Augen führen, dass man legal Geld verdienen kann.
Außerdem zahlen Häftlinge nicht in die Rentenversicherung ein, insbesondere Langzeithäftlinge seien daher von Altersarmut bedroht. Wenn ein Häftling zum Beispiel nach 15 Jahren entlassen wird, hat er zwar viel gearbeitet. In der Zeit aber wenig verdient und keine Rentenpunkte gesammelt. Er ist dann im Zweifel auf Grundsicherung angewiesen.
Häftlinge seien weniger produktiv
Die aktuelle Lohnberechnung hat das Bundesverfassungsgericht 2002 für noch verfassungsgemäß bewertet. Damals war aber die Arbeitslosigkeit in Deutschland sehr hoch, der Staatshaushalt stand deshalb insgesamt unter Druck. Solche Faktoren, so das Gericht damals, müsse der Gesetzgeber mit abwägen, wenn er den Häftlingslohn festsetzt.
Unterstützer des aktuellen Systems argumentierten, dass Häftlinge unproduktiver seien als Arbeiterinnen und Arbeiter in der freien Wirtschaft. Auch der Bildungsstand sei insgesamt niedriger. Und: Häftlinge leben in der JVA kostenlos. Sie bekommen gratis Mahlzeiten und medizinische Versorgung. Der Justizvollzug ist auch deshalb ein riesiges Zuschussgeschäft – finanziert vom Steuerzahler.
Landesgesetzgeber muss nun bis 2025 nachbessern
Politik und Häftlinge warten seit langem auf das Urteil. Die Verfahren liefen seit rund sechs Jahren, auch für Karlsruher Verhältnisse überdurchschnittlich lang. Das aktuelle System wurde seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr reformiert – wohl auch, weil das Gerichtsurteil zunächst abgewartet werden sollte.
Das Land NRW muss nun bis Sommer 2025 ein neues Gesetz verabschieden. Bis dahin bleiben die bisherigen Regelungen bestehen. Dann muss die Resozialisierung aber wohl insgesamt neu konzipiert werden.
NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) gab am Vormittag ein kurzes Statement. Man wolle das Urteil nun sorgfältig auswerten und dann dem Landtag einen Entwurf vorschlagen, der die verfassungsrechtlichen Vorgaben berücksichtige.
Etwas konkreter sind da bereits die Ideen der Fraktionen im Landtag. Die CDU denkt darüber nach, künftig Häftlinge an den Haftkosten zu beteiligen. Und die AfD-Fraktion fordert unter anderem, künftig Rentenbeiträge für die Häftlingsarbeit zu zahlen.
Die SPD-Fraktion stellt auf Anfrage den Resozialisierungsaspekt der Arbeit in den Mittelpunkt, fordert aber auch angemessene Löhne. In eine ähnliche Richtung gehen die Vorstellungen der FDP im Landtag, die seit mehreren Jahren ein Resozialisierungsgesetz fordere. Auf ihre Initative werde das Thema nach der Sommerpause im Rechtsausschuss behandelt, heißt es von den Liberalen.
Über dieses Thema berichtet der WDR am 20.06.2023 u.a. im Hörfunk auf WDR 5 in der Sendung Westblick.