Kommentar: Die Resozialisierung von Häftlingen muss neu gedacht werden

Stand: 20.06.2023, 13:28 Uhr

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Häftlingsarbeit war absehbar. Dass es trotzdem noch keine konkreten Reformideen gibt, ist kaum zu glauben. Ein Kommentar.

Von Philip Raillon

Jahrelang muss es Häftlingen wie blanker Hohn vorgekommen sein: Morgens schließen die Vollzugsbeamten die Zellen auf und führen die Gefangenen zur Arbeit. Dort malochen sie für zuletzt im Schnitt rund 14,60 Euro – am Tag. Und das mit der Begründung: Diese Arbeit, dieser Lohn hilft bei der Resozialisierung. Dass das so nicht funktioniert, werfen Kritiker der Politik seit Jahren vor.

Die Politik, vor allem die vorherigen Landesregierungen, haben das abgetan. Forderungen, etwa nach der Einführung einer Rentenversicherung für Häftlinge, wurden mit Verweis auf die Zuständigkeit des Bundes abgetan. Und der Bund? Der hat auf die Länder gezeigt. Klar: Mehr Geld für Gefangene ist nicht gerade das Thema, mit dem man Punkte bei Wählern sammeln kann.

Seit Jahren schlechte Resozialisierungsquote

Das Bundesverfassungsgericht hat NRW und Bayern heute ein Armutszeugnis ausgestellt – stellvertretend für alle Bundesländer. „Die Konzepte zur Umsetzung des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots sind nicht in sich schlüssig und widerspruchsfrei“, heißt es da etwas sperrig. Im Klartext: Jahrelang haben Häftlinge ihre Strafe unter verfassungswidrigen Bedingungen abgesessen.

Philip Raillon

Philip Raillon, WDR Landespolitik

Die Erwartung an die Gefangenen dabei: Resozialisiert euch gefälligst; macht alles, um wieder Teil der Gesellschaft zu werden. Das klappt bundesweit in über der Hälfte der Fälle nicht - über 60 % der Ex-Häftlinge werden rückfällig. Jetzt haben wir aber aus Karlsruhe schwarz auf weiß: Auch der Staat hat seinen Teil der Aufgabe nicht erfüllt, denn schon das Konzept zur Resozialisierung ist schlecht.

Künftig sind höhere Löhne und Rentenbeiträge nötig

Damit wir uns nicht missverstehen: Verurteilte Häftlinge sitzen in der Regel zurecht im Knast. Sie haben Straftaten begangen. Sie haben zum Beispiel Sachen beschädigt, anderen Menschen Dinge weggenommen oder – noch schlimmer – Menschen Gewalt angetan. Das will ich nicht rechtfertigen und auch nicht kleinreden. Doch: Ihre Strafe ist Freiheitsentzug, das Leben hinter Gittern. Aber nicht Arbeiten mit wenig Lohn.

Das Bundesverfassungsgericht hat die aktuelle Regelung für verfassungswidrig erklärt und damit ein neues Resozialisierungskonzept eingefordert. Meiner Meinung nach gehört dazu ein höherer Lohn und – zumindest für Langzeithäftlinge – die Beiträge für die Rentenkasse. Gerne können dafür die Häftlinge im Gegenzug an den Haftkosten beteiligt werden - so lange unter dem Strich mehr bei ihnen übrig bleibt.

Jede Woche ohne gute Resozialisierung ist verschenkt

So eine Forderung mag bei Opfern von Kriminalität und ihren Angehörigen Störgefühle auslösen. Das verstehe ich, das ist bei einem derart emotionalen Thema in Ordnung. Trotzdem hat die Justiz einen klaren Auftrag: Bereite die Häftlinge darauf vor, wieder Teil der Gesellschaft sein zu können. Mache alles mögliche, damit die Täter von gestern friedliche Nachbarn von morgen sind.

Und zwar so schnell wie es geht! Jede Woche, die ein Häftling mit schlechten Chancen für die Resozialisierung im Knast sitzt, ist ein verschenkte Woche. Wenn die Politik nun das Urteil einhellig begrüßt, aber noch keine Lösungen vorbereitet hat, macht mich das fast sprachlos. Dazu kommt ein vierzig sekündiges Statement des NRW-Justizministers.

Resozialisierung geht uns alle an

Spätestens seit der mündlichen Verhandlung am Verfassungsgericht, vor etwa einem Jahr, müsste doch klar gewesen sein, wie das Urteil ausfällt. Viele Juristinnen und Juristen hielten die Regeln auch vorher schon für verfassungswidrig. Ich habe erwartet, dass konkrete Reformideen vorbereitet sind. Nochmal: Jede Woche mit schlechter Resozialisierung ist für die Häftlinge eine verschenkte Woche.

Es greift aber zu kurz, den schwarzen Peter der Politik zuzuschieben. Kriminalitätsprävention und Resozialisierung sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Das heutige Urteil ist ein Weckruf an uns alle: Der Strafvollzug muss aus der Schmuddelecke.

Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, warum Menschen Straftaten begehen. Und wie wir verhindern, dass Ex-Häftlinge rückfällig werden. Ja, das kostet Geld. Das kostet viel Geld und wird in Zukunft noch teurer werden. Dafür braucht die Politik die Zustimmung. Das ist bitter, aber das sollte es uns wert sein. Nur so können wir Straftätern helfen.

Denn: Die Häftlinge von heute, sind die Nachbarn von morgen.