Ein Journalist ist auf dem Gelände eines landwirtschaftlichen Betriebs zu sehen, der durch den Beschuss russischer Truppen in der Nähe von Orikhiv, Region Saporischschja, im Südosten der Ukraine, zerstört wurde.

Ukraine und Nahost: Wie viel Kriegsberichterstattung verkraften wir?

Stand: 28.10.2023, 06:00 Uhr

Seit dem Überfall der radikalen Hamas auf Israel scheint der Krieg in der Ukraine fast vergessen. Wären zwei Kriege als Top-Nachrichtenthemen überhaupt zu verkraften? Filter seien sinnvoll, sagt eine Psychologin.

Von Nina Magoley

Bis zum 7. Oktober erfuhren wir fast täglich über die neuen Entwicklungen im Angiffskrieg Russlands auf die Ukraine: Weitere Bombenangriffe, Waffenlieferungen, Solidaritätsbesuche in Kiew von Politikern aus aller Welt. Seit dem 7. Oktober aber könnte man meinen, der Ukrainekrieg sei vorbei. Dramatische Bilder und Nachrichten aus Israel und Gaza bestimmen jetzt die Berichterstattung. Prompt mahnte der ukrainische Präsident Selenskyj am 15. Oktober, dass die internationale Hilfe für sein Land jetzt nicht ins Hintertreffen geraten dürfe.

Das Phänomen ist nicht neu: Ein aktuelles Thema beschäftigt die Öffentlichkeit, die Medien liefern täglich neuen Input. Dann passiert etwas Neues, irgendwo auf der Welt - und das bis dato wichtigste Thema rückt plötzlich in den Hintergrund.

Beispiele gibt es viele: Im August 2021 beschäftigte die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wochenlang die Welt, besorgt verfolgten viele Mediennutzer auch in Deutschland die Rettungsaktionen am Flughafen von Kabul. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 schien das Thema Afghanistan und das Schicksal der dortigen Bevölkerung medial von einem auf den anderen Tag vergessen. In Schlagzeilen und Medienbildern gab es fast nur noch ein Thema: Russische Bombenangriffe, Zerstörung und Massaker in der Ukraine.

Seit dem Hamas-Angriff auf Israel und die Folgen scheint die Ukraine fast vergessen, Bilder aus Gaza und Israel dominieren die Aufmacher. Ein schlimmes Erdbeben in Afghanistan mit tausenden Toten blieb unterdessen fast unter dem Radar der Medienöffentlichkeit.

Kiew-Korrespondent: Nachfrage lässt nach

Auch der ARD-Korrespondent in Kiew, Vassili Golod, spürt, dass die mediale Aufmerksamkeit für das Thema Ukraine "ganz klar nachgelassen" habe. "Wir machen weniger Liveschalten, weniger Nachrichtenfilme für die Tagesschau." Dennoch gebe es weiterhin ein großes Interesse der Menschen daran, die Ukraine besser zu verstehen, meint er. Die Korrespondenten nutzten daher die Zeit für hintergründige Reportagen, Analysen, Reisen durchs Land, "um die vielfältigen Geschichten der Menschen in der Ukraine zu erzählen".

Vorgestern, erzählt Golod, sei er in einem Dorf in der Region Charkiv gewesen, in dem eine russische Rakete ein Drittel der Dorfbevölkerung getötet habe. "Es wäre fahrlässig, wenn der Westen das nicht sehen würde - und es wäre ein gewaltiges Sicherheitsrisiko für Europa." Auf politischer Ebene sei das verstanden worden, die Hilfen würden weiter fortgesetzt - und das käme als Info zumindest bei den Menschen in der Ukraine auch an.

In den ukrainischen Medien seien die Angriffe Russlands, die Meldungen über Verletzte und Tote weiterhin Thema Nummer eins, beobachtet Golod. Das sei nachvollziehbar für ein Land, das weiterhin selber angegriffen wird, sagt er. Die Ereignisse in Israel würden aber dennoch viele Menschen verfolgen - allein schon deshalb, weil es viele Ukrainer gebe, die Verwandte oder Freunde dort hätten und sich jetzt um sie sorgten.

Wie viel Kriegsberichterstattung schaffen die Medien?

Wie viele Kriege und Dramen können Medien darstellen? Wie viel solcher Nachrichten vertragen die Menschen? Das hänge von vielen Faktoren ab, erklärt Psychologin Cornelia Sindermann von der Universität Stuttgart. Nachrichten müssten über Dramen und Katastrophen, die auf der Welt passieren, berichten, stellt sie zunächst klar - "das ist eine ihrer Aufgaben". Bei den Mediennutzern könne das natürlich negative Emotionen und Stress auslösen, die längerfristig sogar die mentale Gesundheit beeinflussen könnten. "Was schließlich zur Vermeidung von Nachrichten führen kann."

Psychologin Cornelia Sindermann von der Uni Stuttgart

Psychologin Cornelia Sindermann von der Uni Stuttgart

Angesichts der schier unendlichen Masse an Nachrichten, die uns heutzutage über Internet, Fernsehen oder Soziale Medien erreichen können, sei es es zu einem gewissen Grad sinnvoll, den Input zu filtern: Sei es durch eigene Algorithmen, Themenfilter, die man sich selber einstellt - oder eben eine Themenauswahl, die Redaktionen treffen. "Wenn wir keinerlei Filter hätten, käme es zu einem Newsoverload", sagt Sindermann - die Menge an Nachrichten wäre dann kaum noch zu verkraften.

Neuigkeiten erregen mehr Aufmerksamkeit

Ein dritter Aspekt, warum Redaktionen oder Medienschaffende Themen gezielt auswählen, sei der Neuigkeitswert. Die Aufmerksamkeitsspanne des Menschen sei begrenzt - Neuigkeiten erregen mehr Aufmerksamkeit als bereits bekannte Themen. Zudem gelte: "Wiederholungen führen zu Monotonie."

Und nicht zuletzt zählen natürlich auch die Quote, die Klickzahlen, die ein Medium mit einem Thema erreichen kann. "In den Sozialen Medien sind es eindeutig die emotionalen Postings, die die meisten Shares und Likes erhalten", sagt Sindermann. Inwieweit Redaktionen und Medienhäuser auf diesen Faktor setzen, sei eine moralische Frage.