Massenproteste im Iran

Iran-Experte: "Es steht kein politischer Umsturz bevor"

Stand: 28.09.2022, 11:00 Uhr

Seit Tagen gehen Menschen im Iran auf die Straße. Auch in der Nacht auf Samstag hat es Proteste gegen Regierung und Kopftuchpflicht gegegeben. Welche Erfolgsaussichten haben die Proteste? Der Iran-Experte Adnan Tabatabai gibt Antworten.

WDR: Herr Tabatabai, können die derzeitigen Proteste zu dauerhaften Veränderungen im Iran führen?

Adnan Tabatabai

Adnan Tabatabai ist Iran-Analyst vom Orient-Forschungszentrum CARPO mit Sitz in Bonn

Adnan Tabatabai: Wir müssen leider davon ausgehen, dass die Sicherheitskräfte die Proteste wieder unter Kontrolle bekommen und die Demonstranten demnächst von den Straßen verschwinden. Im Zuge dessen muss mit sehr viel Gewalt gerechnet werden. Das ist die kurzfristige Perspektive. Mit Blick auf mögliche Veränderungen gibt es natürlich die leise Hoffnung, dass es zumindest beim Verschleierungsgebot und der strikten Umsetzung kleine Lockerungen gibt. Denn die derzeitigen Vorgaben werden sehr häufig und viel kritisiert - auch von Mitgliedern der politischen Elite. Aber das wäre auch die einzige mögliche Veränderung, die ich sehe.

WDR: Das Regime ins Wanken bringen können die Proteste also nicht?

Tabatabai: Nein, es steht kein politischer Umsturz bevor. Dieser Machtapparat funktioniert einfach zu gut. Es gibt viele Sicherheitskräfte und die sind sehr gut ausgestattet. Der Staat hat also genug Möglichkeiten, um diese Proteste unter Kontrolle zu bekommen. Die Frage ist nur, zu welchen Kosten? Es kann zu einer weiteren Entfremdung von weiten Teilen der Bevölkerung kommen. Natürlich haben dieser Staat und dieses System auch Befürworter und man darf nicht unterschätzen, wie viele das in der Bevölkerung sind. Aber am Ende wird die Spaltung der Gesellschaft von Protest zu Protest größer.

WDR: In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Demonstrationen. Gibt es jetzt einen Unterschied zu früher?

Tabatabai: Durchaus! 2009 war der Auslöser eine Präsidentschaftswahl. Da ging es um politische Mitsprache, den Vorwurf der Wahlfälschung und dann resultierte daraus eine Bewegung, die politische Teilhabe forderte. Danach haben wir sehr viele Proteste gesehen, die vor allem aus Wirtschaftsnöten entstanden. So ging es 2019 um gestiegene Benzinpreise. Und jetzt gibt es wieder einen Auslöser, der ganz klar gesellschaftspolitisch ist. Es geht um Frauenrechte im Speziellen und die Würde der Bürgerinnen und Bürger im Allgemeinen. Deswegen gehen die jetzigen Proteste viel mehr an die Essenz der politischen Ordnung im Iran als zuletzt.

WDR: Wer geht denn da im Moment überhaupt auf die Straße?

Tabatabai: Es gibt Menschen, die interessiert die politische Situation nicht, aber sie sind unglücklich wegen der wirtschaftlichen Not. Andere stören sich daran, dass sie sich beruflich nicht verwirklichen können. Da geht es darum, nach dem Studium einen richtigen Job zu finden. Und dann gibt es natürlich die, die sich wirklich gegen die politische Ordnung wenden. Die Gemengelage ist im Moment sehr undurchsichtig. Man kann nicht sagen, welche Gruppen die Demonstranten dominieren. Aber man sieht durchaus, dass es ein generationenübergreifender Protest ist. Da gehen nicht nur die jungen Leute auf die Straße, sondern es gibt auch Ältere, die sich unter die Demonstranten mischen.

WDR: Und trotzdem ist das System nicht in Gefahr?

Tabatabai: Nein, ich sehe nicht, dass ein Systemsturz oder dergleichen bevorsteht. Dazu müssen wir uns auch klarmachen, was wir uns darunter überhaupt verstehen. Geht es darum, dass die Demonstranten nun Regierungsgebäude stürmen und die Staatsbürokratie ihre Arbeit niederlegt? Sollen alternative Politiker kommen, die die Belange des Landes übernehmen? Da beginnt schon das erste wesentliche Problem: Es ist überhaupt nicht klar, wer diese anderen politischen Akteure sein sollen. Es gibt sie einfach nicht. Doch ein Einsturz des Systems ist ja nur denkbar, wenn es eine mögliche Alternative gibt. Sonst übernimmt die Institution, die am besten organisiert ist. Und das ist der Militärapparat. Insofern ist es extrem ernüchternd, wenn man das so beschreibt. Aber es wäre falsch, eine romantische Idee von einem Umsturz zu vertreten, wenn es einfach keine aufzeigbare Alternative gibt.

Das Gespräch führte Christian Wolf.

Hinweis der Redaktion: Adnan Tabatabai besitzt verwandtschaftliche Verbindungen in die iranische Politik, unter anderem zu Ayatollah Khomeini. Dazu hat sich Tabatabai am 17.10.2022 gegenüber Übermedien so geäußert: "Mein Familienhintergrund eröffnet mir Wege, ein weitreichendes Netzwerk an Gesprächspartner:innen im Iran aufzubauen."