"Unsere Kinder und Enkelkinder werden das ausbaden" - Gabriel kritisiert den Umgang mit der AfD
04:28 Min.. Verfügbar bis 05.01.2026.
Gemeinsam gegen die AfD - Ex-SPD-Chef Gabriel fordert parteiübergreifenden Widerstand
Stand: 05.01.2024, 18:00 Uhr
In einem überraschend emotionalen Interview mit dem WDR äußert sich Sigmar Gabriel, ehemaliger Außenminister und SPD-Parteivorsitzender, zum gesellschaftlichen Rechtsruck und der AfD in Deutschland. Er sei "fast schon verzweifelt", sagt Gabriel - und vermisse Gegenwehr.
2024 gilt als "Superwahljahr": Im Juni wird das Europaparlament neu gewählt, außerdem stehen Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern sowie Kommunalwahlen in zahlreichen Städten an. Die in Teilen gesichert rechtsextreme AfD hat dabei laut Umfragen vielerorts gute Chancen. In Sachsen könnte die AfD die Landtagswahl im September gewinnen. Wenn die Vorhersagen recht behalten, werde das "die Republik ganz schön durchschütteln", fürchtet der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) im WDR-Interview. Er vermisse vor allem einen erkennbaren Widerstand gegen diesen Rechtsruck.
WDR: Die demokratischen Parteien wirken seltsam motivationslos angesichts dieser deutlichen Trends nach Rechts.
Sigmar Gabriel: Ich bin, ehrlich gesagt, entsetzt darüber, dass trotz dieser offensichtlichen Entwicklung keiner etwas macht. Weder überlegen die Parteien in Berlin, wie sie zum Beispiel dem Ministerpräsidenten in Sachsen (Michael Kretschmer, CDU, Anm. der Redaktion) helfen können. Es wäre ein Leichtes, im Bundestag mal zu überlegen, was wir eigentlich für ihn tun können, damit er zeigen kann, dass er Erfolg hat und dann auch gewählt wird. Dazu müsste man aber das parteipolitische kleine Karo überspringen.
Aber auch die Zivilgesellschaft! Als 1980 Franz Josef Strauß Kanzler werden wollte, da bildeten sich mit dem Slogan "Stoppt Strauß!" republikweit Komitees "zur Verteidigung der Republik". Dabei war damals die Demokratie ganz bestimmt noch nicht in Gefahr. Das ist sie aber jetzt! Wir haben offen rechtsextreme Parteien, wie die Höcke-AfD in Thüringen. Stellen Sie sich mal vor, Höcke wird Landtagspräsident! Oder in Sachsen, da kommt die AfD in die Nähe des Ministerpräsidentenamtes.
WDR: Und der öffentliche Aufschrei bleibt aus.
Gabriel: Ich kenne keine Kulturinitiative, keine Literaten, Künstler, keine Politiker, keine Chefs großer Unternehmen – bis auf ganz wenige - die sich dagegen engagieren. BDI-Präsident Siegfried Russwurm hat jetzt mal was gesagt - aber praktisch keiner ist ihm beigesprungen. Statt dessen drehen wir hier Däumchen und lassen das auf uns zu rollen. Ich finde das eine unfassbare Situation. Und es fällt mir schwer, zu glauben, dass es in Deutschland keine Menschen mehr mit Mut gibt, die sich dem entgegen stellen. Der einzige, den ich kenne, für den ich sogar als Sozialdemokrat Wahlkampf machen würde, ist der CDU-Ministerpräsident in Sachsen. Der hat Mumm, der geht da in den Straßenwahlkampf, in den Nahkampf mit der AfD, lässt sich nicht verscheuchen und nicht einschüchtern. Solche Typen brauchen wir jetzt! Aber nichts passiert.
WDR: Woran liegt das?
Gabriel: Ich glaube, es gibt eine Menge Gründe. Zum einen sind wir ohnehin politisch offenbar eine gleichgültige Gesellschaft geworden. Manches hat auch damit zu tun, dass sich die Politik fürchterlich darstellt. Es gibt nicht ohne Grund massive Kritik an dem, was gerade die Bundespolitik in den letzten Monaten abgeliefert hat. Viele wenden sich einfach ab von der Politik und sagen "lasst mich in Ruhe damit". Ein anderer Teil sagt: "Was habe ich damit zu tun, wird schon irgendwie gut gehen". Das ist eine gewisse Form von Trägheit.
Bei den Parteien habe ich die Sorge, dass das eigene Interesse immer noch wichtiger ist, als gemeinsam mit den anderen zu überlegen, wie man diese Welle bricht. Das ist eigentlich ein verheerendes Zeichen von Machtvergessenheit. Ich würde mir wünschen, dass da mal jemand auf den Tisch haut und sagt: "Leute, wir haben jetzt eine gemeinsame Aufgabe. Wir müssen verhindern, dass die AfD in diese Größenordnung kommt." Wir müssen den Menschen sagen: "Ja, nicht alles ist gut in diesem Land und ja, wir machen auch Fehler - und manchmal ist der Irrsinn der Politik schwer zu ertragen. Aber wenn die Alternative ist, dass wir die Demokratie zerstören, indem wir eine Partei wählen, die sich das zum Ziel gemacht hat, dann wird es gewiss nicht besser." Unsere Kinder und Enkelkinder werden das ausbaden, was wir jetzt hier versaubeuteln. Diese Gleichgültigkeit ist gefährlich.
WDR: Welche Rolle spielen die Sozialdemokraten?
Gabriel: Die Sozialdemokratie hat meiner Meinung nach ein falsches Bild von ihrer traditionellen Wählerschaft. Sie setzt sich sehr stark ein für Menschen, die kein Einkommen haben, kümmert sich um das Bürgergeld. Aber die größte soziale Frage dieses Landes ist für viele Menschen, wie sie eigentlich ihre Mieten bezahlen sollen. Auch zu Themen wie dieser verheerenden Pisa-Studie, zum deutschen Bildungssystem, schweigt meine Partei praktisch.
Und dann gibt es Etwas, wovor leider die Sozialdemokratie, aber auch die anderen Parteien, CDU, FDP und die Grünen, Angst haben: dem Thema Migration. Dass wir inzwischen zu viele Menschen in Deutschland haben, die wir zu wenig integriert haben. Und dass wir keine wirklichen Ideen und praktischen Möglichkeiten entwickelt haben, wie wir die Zuwanderung reduzieren. Wir diskutieren immer darüber, wie wir sie besser verteilen, und wie wir den Kommunen mehr Geld geben. Das ist alles nett, aber es geht darum, die Zahlen runterzubringen - und zwar auf ein Niveau, das wir anschließend auch wirklich integrieren können. Wir versagen ja an beiden Enden: Bei der Frage der Kontrolle, wer kommt und wie viele kommen, und bei der Integration.
WDR: Was müsste die Politik anders machen?
Gabriel: Ich erinnere mich noch daran, wie in den Medien der so genannte Deal mit Erdoğan (der türkische Präsident, Anm. d. Red.) in Grund und Boden diskutiert wurde. Da hatten wir ja Geld dafür bezahlt, dass Erdoğan seine Grenze dicht macht und die Flüchtlinge nicht alle auf die griechischen Inseln reisen. Wenn wir die Türkei bitten, nicht so viele Flüchtlinge durchzulassen, müssen wir ihr auch helfen, mit ihnen umzugehen.
Abschiebung afghanischer Flüchtlinge
Das müssten wir auch mit allen Staaten Nordafrikas machen: Denen Geld dafür geben, dass die ihre Bürger zurücknehmen. Das tun sie nämlich sonst nicht. Warum nicht? Weil Flüchtlinge ein Teil des Geldes, dass sie hier bekommen, zurücküberweisen an ihre Heimatländer. Es gibt Länder im mittleren Afrika, da ist das der größte Teil des nationalen Einkommens. Wenn wir nicht grundsätzlich an das Thema rangehen, dann weiß ich nicht, wie uns das gelingen soll.
Das Ergebnis wird sein, dass in Europa alle europäischen Staaten nach und nach wieder Grenzkontrollen einführen werden. Das heißt, wir zerstören die innere Liberalität Europas, in dem wir die äußere Liberalität übertreiben. Und das ist eins der großen Themen, vor dem alle demokratischen Parteien Angst haben, weil sie sofort die Sorge haben, sie werden in die rechte Ecke gestellt.
WDR: Sie klingen nicht gerade positiv, sondern eher traurig.
Gabriel: Es ist fast schon Verzweiflung. Weil ich natürlich sehe, was auf das Land zu rollt. Dazu kommt ja, dass wir wirtschaftliche Probleme haben. Die Arbeitslosigkeit steigt zum ersten Mal wieder. Was passiert eigentlich, wenn die wirtschaftlichen Bedingungen in diesem Land wieder schwieriger werden? Die alten Themen kommen doch zurück, von denen wir alle dachten, sie sind überwunden: Die Frage, ob wir eigentlich zu viele Schulden haben und wie wir die bezahlen. Ob wir unsere sozialen Sicherungssysteme noch bezahlen können? Die Verschuldung der Städte und Gemeinden - die ganzen alten Themen sind wieder da, und keiner widmet sich ihnen.
Wir machen neue Programme, von denen wir jetzt schon wissen, dass wir sie nicht bezahlen können. Die Kindergrundsicherung hört sich unheimlich nett an, aber es gibt natürlich keine armen Kinder ohne arme Eltern. Die muss man in Arbeit bringen. Dafür ist es zum Beispiel nötig, mehr Ganztagsschulen und Kindertagesstätten aufzumachen. Da ist das Geld sinnvoller aufgehoben als in der nächsten Transferleistung.
Das Interview führte Nils Rode.