Fall Fabio: Gefährdete Kinder, die wegen Corona niemand mehr sieht

Stand: 03.12.2020, 18:00 Uhr

In Mönchengladbach steht ein Mann vor Gericht, der während des ersten "Lockdowns" den Sohn seiner Lebensgefährtin erschlagen haben soll. Der Fall zeigt, was passieren kann, wenn gefährdete Kinder in der Pandemie nicht mehr gesehen werden.

Von Arne Hell und Lena Kampf

Als der fünfjährige Fabio aus Mönchengladbach starb, hatte er zahlreiche Verletzungen. Der Notarzt stellte am Abend des 21. April fest: ein deformiertes Gesicht, ausgeschlagene Zähne, Bissspuren, einen Leberriss. Angeklagt wegen Totschlags ist der Lebensgefährte der Mutter. Einige Verletzungen waren auch schon älter. Sie waren während des ersten Corona-Lockdowns offenbar niemandem außerhalb der Familie aufgefallen.

Wenige Tage vor dem Lockdown hatte eine Erzieherin schon blaue Flecken an Fabios Oberarm entdeckt. Die Kita hat dies dem Jugendamt gemeldet. Dort überprüfte man den Verdacht und kam man zu der Einschätzung, Fabio sei nicht massiv gefährdet. "Dann folgte die Coronazeit", sagte Fabios Erzieherin später bei der Polizei aus. Ein angedachtes Folgegespräch mit dem Jugendamt habe es deswegen nicht mehr gegeben.

Gefährdet: Vor allem Kinder im Kita-Alter

Der "Fall Fabio" scheint ein extremes Beispiel zu sein für das, wovor Kinderschutzexperten im Frühjahr während des "Lockdowns" eindringlich gewarnt hatten: Zunehmende Gewalt gegen Kinder und gleichzeitig deutlich weniger Gelegenheiten, die Anzeichen für diese Gewalt zu entdecken.

"Gefährdet sind vor allem Kinder im Kindergartenalter", sagt Prof. Katinka Beckmann von der Hochschule Koblenz, Expertin für Kinderschutz. "Sie können sich in der Regel nicht einfach Hilfe holen und sind darauf angewiesen, dass sie im Kindergarten einer Erzieherin auffallen oder sich dort auch mitteilen können."

Wie weit verbreitet dieses Problem im März und April tatsächlich gewesen ist, dazu haben die Familien- und Sozialministerien der Bundesländer bisher offenbar keine abschließenden Erkenntnisse. Auf Anfrage von WDR und SZ teilte mehr als die Hälfte der Landesfamilien- und Sozialministerien mit, dass es während des Lockdowns zunächst einen Rückgang an Kindeswohlgefährdungsmeldungen gegeben habe. Mit Beginn der Lockerungen im Mai habe es dann wieder einen Anstieg gegeben. Andere Bundesländer teilten keine Zahlen mit und etwa ein Viertel der Bundesländer hat keine Veränderung der Meldungen im Vergleich auf die Vorjahre festgestellt. Das Bild ist also nicht eindeutig und variiert auch von Jugendamt zu Jugendamt.

Studie: 6,5 Prozent der Kinder erlebt Gewalt im Lockdown

Dennoch stellt das Bundesfamilienministerium in einer vorläufigen Bewertung fest, dass die Fallzahlen angesichts der Corona-Pandemie niedriger als erwartet ausfallen. "Das könnte darauf hindeuten, dass das Dunkelfeld nicht entdeckter Gefährdungen tatsächlich, wie befürchtet, gewachsen sein könnte", so eine Sprecherin.

Die Anlaufstellen für Betroffene, etwa die Gewaltschutzambulanz der Charité in Berlin, verzeichneten im ersten Halbjahr 2020 einen deutlichen Anstieg von Gewalt an Kindern. Untersuchte Verletzungen nahmen um mehr als 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu. Insbesondere wurden dort mehr schwere Verletzungen festgestellt, etwa Knochenbrüche und Würgemale.

Eine genauere Ahnung davon, wie viel Gewalt es tatsächlich im Lockdown gegeben hat, liefert eine repräsentative Studie der TU München aus dem Sommer. Die Forscherinnen befragten 3.800 Frauen nach ihren Erfahrungen. Das Ergebnis: 6,5 Prozent der Kinder in den Haushalten erlebten Schläge, Stöße oder Schlimmeres. Auf ganz Deutschlands hochgerechnet wären dies mehr als 600.000 Kinder. "Die Befragung zeigt, dass es durchaus gefährliche Situation gibt in Familien, die während eines Lockdowns eben verschärft werden können", sagt eine der Autorinnen der Studie, Prof. Janina Steinert von der TU München. Ihr Fazit: Im Falle eines Lockdowns müssten gefährdete Kinder unbedingt in die Notbetreuung geschickt werden.