Symbolbild: Eine Lupe vergrößert das Wort "Fachkraft" in einer Stellenanzeige

Bye-bye Babyboomer - hallo Fachkräftemangel

Stand: 16.09.2022, 06:00 Uhr

Der Fachkräftemangel wird zunehmend zum Problem für Unternehmen in NRW. Wie ist die Situation im Land? Und worauf muss sich die jüngere Generation einstellen, wenn die Babyboomer in Rente gehen? Ein Überblick.

Von Oliver Scheel

Der Engpass ist längst da. 85 Prozent der Betriebe in Deutschland befürchten negative Konsequenzen, weil sie keine geeigneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden - so besagte es schon 2020 der DIHK-Fachkräftereport.

Laut Fachkräftemonitor der Industrie- und Handelskammern in NRW fehlen aktuell 366.000 Fachkräfte im Land. Die Prognose ist düster: In fünf Jahren werden allein in NRW schon fast 630.000 Fachkräfte fehlen, im Jahr 2035 fast 1,3 Millionen. Welche Probleme ergeben sich daraus? Wie können die gelöst werden? Fragen und Antworten.

Was heißt Fachkräftemangel?

Von einem Fachkräftemangel kann gesprochen werden, wenn die Nachfrage von Unternehmen nach Fachkräften über einen längeren Zeitraum nicht mehr ausreichend gedeckt werden kann. Die Betriebe haben in der Folge mehr Stellen zu besetzen, als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. 

Wie die Ausgangslage in NRW?

Deutschland und damit auch NRW stehen vor einem gravierenden demografischen Wandel. Denn die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge der 50er- und 60er Jahre, die sogenannten Babyboomer, kommen gerade an das Ende ihrer Erwerbstätigkeit, gehen also in Rente. Nach einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft werden in den nächsten 15 Jahren dem Arbeitsmarkt bundesweit etwa fünf Millionen Erwerbstätige fehlen. Denn es kommen nicht so viele Menschen aus den Schulen und Universitäten nach, wie in Rente gehen.

Eine Folge: Bis 2050 kommen rechnerisch zwei Erwerbstätige auf einen Rentner. Die Rente zu finanzieren, wird damit zur Herausforderung. Zudem gefährdet eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung den Wohlstand, weil durch weniger arbeitende Menschen weniger produziert werden könnte.

Dabei gebe es rein rechnerisch genügend Arbeitskräfte in Deutschland, sagt Alexander Kubis vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). "Wir haben derzeit auf zwei Millionen offene Stellen etwa 2,4 Millionen Arbeitslose", sagte Kubis dem WDR. "Auf 120 Arbeitslose gibt es 100 offene Stellen." Allerdings passe das Profil der Stellen in vielen Fällen nicht auf das der Bewerberinnen und Bewerber.

In welchen Berufsfeldern fehlen die Fachkräfte besonders?

Laut Klaus Bourdick von der IHK Arnsberg geht der Fachkräftemangel quer durch fast alle Branchen.

Besonders betroffen seien die MINT-Berufe, also Jobs, die mit Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik zu tun haben. Auch im Gesundheitssektor fehlen Tausende Fachkräfte. Angesichts der dort eher schlechten Bezahlung und der Überalterung der Gesellschaft werde die Lücke im Sektor Pflege und Gesundheit weiter wachsen, sagen Experten voraus.

Bei den sogenannten personenbezogenen Dienstleistungen, also bei Pflegern, Frisören oder Ärztinnen, fehlen nach Angaben der Industrie- und Handelskammern in NRW schon jetzt 37.000 Fachkräfte - in fünf Jahren würden es dreimal so viele sein.

Im Fahrzeugbau hingegen wird der Engpass den Berechnungen der Handelskammern zufolge kleiner, für das Papier- und Druckgewerbe sagen sie sogar einen Überschuss an Bewerberinnen und Bewerbern voraus.

Welche Regionen sind in NRW am meisten betroffen?

Besonders betroffen sind laut Klaus Bourdick von der IHK das Münsterland und Südwestfalen.

"Der ländliche Raum hat wirtschaftlich starke Regionen, in denen insgesamt weniger junge Leute leben. Und die aus den Städten kriegen wir schlecht aufs Land", beschreibt Bourdick die Situation. Problematisch für den ländlichen Raum ist laut Arbeitsmarkt-Experte Alexander Kubis außerdem, dass dort meist nicht beide Partner einen Job fänden.

Wie kann der Fachkräftemangel behoben werden?

Berufstätiger Senior am Arbeitsplatz

Expertise an die Jüngeren weitergeben

Viele Experten führen bei dem Thema eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ins Feld. Dazu gehören flexiblere Arbeitszeiten, die Möglichkeit zum Home-Office oder zur Teilzeit. Innerbetriebliche Weiterbildung ist ein Weg, schon bekannte Mitarbeiter zusätzlich zu qualifizieren. Aber ohne Zuwanderung wird es nicht gehen, da sind sich die meisten politischen Parteien einig. Schließlich drohen laut Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Wohlstandverluste in Milliardenhöhe.

Die Zahlen sind enorm: 400.000 Menschen, so rechnet die Bundesagentur für Arbeit vor, müssen jedes Jahr nach Deutschland kommen und dauerhaft bleiben, um den Mangel an Fachkräften durch Zuwanderung zu beheben. Es kommen aber viel weniger, und viele verlassen Deutschland auch wieder.

Ein wichtiges Instrument ist daher, die gut ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so lange wie möglich im Unternehmen zu halten. Viele Fachkräfte, die das Rentenalter bereits erreicht haben, können mit ihrer Erfahrung helfen, junge Kollegen auszubilden.

Was kann der Staat gegen den Fachkräftemangel tun?

Das wichtigste Instrument, das dem Staat zur Verfügung steht, ist die Schule. Mit der Schulbildung fängt alles an. Die Anzahl der Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen, sollte so gering wie möglich sein.

Auch bei der Weiterbildung können Bund und Länder zielgenau unterstützen. Das passiert auch schon mit dem sogenannten Qualifizierungschancengesetz von 2018, bei dem die Bundesagentur für Arbeit den innerbetrieblichen Erwerb neuer Qualifikationen unterstützt.

"Es gibt viele Arbeiter, die können Maschinen bedienen, aber ihnen fehlt zum Anlagenführer das Wissen über Instandhaltung und Qualitätsmanagement. Das kann man nachqualifizieren. Bei dieser Teilqualifikation haben wir eine Erfolgsquote von 92 Prozent", erklärt Klaus Bourdick von der IHK Arnsberg.

Darüber hinaus regelt der Staat das Steuern- und Abgabesystem. Experte Kubis fordert dabei "Planbarkeit" für die Betriebe. "Sind die Betriebe konkurrenzfähig mit Firmen im Ausland? Dann können wir höherpreisige Produkte auch in Zukunft am Markt platzieren."

Zudem könnte ein Zuwanderungsgesetz geeignete Fachkräfte nach Deutschland bringen. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) machte mit einer sogenannten "Chancenkarte" zuletzt einen Anfang. Noch unter Innenminister Horst Seehofer (CSU) hatte die Regierung ein Fachkräfte-Einwanderungsgesetz verabschiedet.

Wie wird die Arbeit der Zukunft aussehen?

Alexander Kubis vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sieht drei große Trends auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft:

Demografie: Die Belegschaften werden altern und schrumpfen. Die verbliebenen Angestellten müssten ihre Produktivität steigern, effizienter werden, so Kubis. Es gelte, ältere Fachkräfte über das Erreichen des Rentenalters hinaus im Unternehmen zu halten, zum Beispiel als Berater.

Digitalisierung: Die Digitalisierung wird viele Berufe verändern. Durch Digitalisierung werden Berufe gänzlich andere Tätigkeiten umfassen, und es werden neue Berufsfelder entstehen.

Dekarbonisierung: Die anstehende Energiewende und die Transformation der Industrie hin zur CO2-Neutralität werde einen deutlich höheren Bedarf an geschultem Personal generieren, sagt Kubis.

Auf welche Arbeitswelt muss sich ein junger Mensch heute einstellen?

Ein ganzes Arbeitsleben in nur einer Firma - das wird eher zu einer Seltenheit werden, da sind sich sowohl Klaus Bourdick von der IHK als auch Arbeitsmarkt-Experte Kubis sicher. Veränderungen gingen schneller vonstatten, vom Arbeitnehmer werde eine größere Flexibilität erwartet. Das Stichwort hier ist "Lebenslanges Lernen".

Kubis beschreibt es so: "Ein heute 25-Jährger wird wohl nicht sein ganzes Leben im gleichen Beruf bleiben. Er oder sie muss sich wahrscheinlich mehrfach im Leben woanders bewerben. Die heute schon existierenden modularen Studiengänge setzen da an." Einen Wandel der Arbeitswelt habe es immer gegeben, aber der Wandel werde immer schneller.

Die Bereitschaft für einen Ortswechsel helfe bei der Suche nach einem guten Job. Bourdick beschreibt es mit einem Beispiel aus NRW: "In Coesfeld haben wir viele Betriebe, die Azubis suchen, in Recklinghausen haben wir viele junge Leute ohne Ausbildungsplatz. Junge Menschen müssen auch bereit sein, ihren Wohnort für einen Ausbildungsplatz zu wechseln oder wenigstens die Fahrt in Kauf zu nehmen. Beim Studienplatz ist das völlig normal, warum nicht bei der Ausbildung?"

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