Eine Uhr am Bahnsteig des Kieler Hauptbahnhofes, rechts davon steht ein ICE

"Künftig wieder die Uhr nach der Bahn stellen": Wie realistisch ist das?

Stand: 24.06.2022, 10:41 Uhr

Verkehrsminister Wissing will die Bahn-Sanierung zur Chefsache machen. Er verspricht ein "Hochleistungsnetz". Was steckt dahinter? Was sind die Stärken und Schwächen dieses Plans?

Von Jörn Seidel

Bei der Deutschen Bahn herrscht Sanierungsstau - darin sind sich alle einig. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) will das Problem jetzt zur "Chefsache" machen, wie er am Mittwoch erklärte. Die Bahn solle wieder leistungsfähiger werden - und pünktlicher. Ein "Hochleistungsnetz" soll kommen. Was ist konkret geplant? Und welche Kritik gibt es daran? Fragen und Antworten.

"Hochleistungsnetz" geplant: Was hat Wissing genau vor?

Ab 2024 sollen besonders beanspruchte Streckenabschnitte im Bahn-Netz zu einem "Hochleistungsnetz" ausgebaut werden. Konkret geht es dabei laut Deutscher Bahn um etwa zehn Prozent des Gesamt-Netzes, also rund 3.500 Kilometer - diese Abschnitte seien bereits heute zu 125 Prozent ausgelastet. Und die Zahl der belasteten Strecken nehme deutlich zu.

Wissing will also nicht nur das Schienennetz sanieren, sondern einige Hochleistungskorridore mit "erstklassigen Ausstattungsstandard" bauen lassen.

Kann man dann "wieder die Uhr nach der Bahn stellen"?

"Ich möchte, dass man künftig wieder die Uhr nach der Bahn stellen kann. Da müssen wir hin", sagte Verkehrsminister Wissing in den Tagesthemen:

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In der Tat würde die Bahn wohl wieder pünktlicher als bisher sein, wenn sich auf besonders belasteten Strecken weniger Züge in die Quere kommen. Das schätzt auch Dirk Flege, Geschäftsführer des Vereins Allianz pro Schiene, gegenüber dem WDR so ein: "Ja wir glauben, dass das in Zukunft wieder möglich ist - vielleicht aber noch nicht direkt morgen." Wie man zu diesem Ziel gelangt, da haben Wissing und Flege jedoch unterschiedliche Vorstellungen.

Was ist die größte Kritik an Wissings Bahn-Sanierungsplan?

Kritisiert wird insbesondere, dass das Streckennetz nicht ebenfalls mit hoher Priorität erweitert werden soll. "Es gibt eine Liste von 400 stillgelegten Schienenstrecken, die dringend reaktiviert werden müssen", sagte Heiner Monheim dem WDR. Monheim, emeritierter Professor der Uni Trier, unter anderem für Raumplanung, ist Unterstützer der Klimabahn-Initiative. Die Konzentration auf Hochleistungskorridore bringe dem Klimaschutz zu wenig, ist er überzeugt. Stattdessen müsse man in die Fläche investieren.

Die Allianz pro Schiene hält die Hochleistungskorridore zwar für einen wichtigen Schritt - genau wie die geplante Bündelung von Baumaßnahmen, sodass man danach möglichst viele Jahre freie Fahrt hat. Aber auch der Interessenverband kritisiert die fehlende Erweiterung des Schienennetzes.

"In den vergangenen Jahrzehnten ist das Schienennetz um knapp 15 Prozent geschrumpft", so Geschäftsführer Flege. "Gleichzeitig wurden wahrscheinlich hunderte Kilometer neue Straßen gebaut. Diese Entwicklung der Schieneninfrastruktur fällt uns jetzt massiv auf die Füße. Hätten wir zum Beispiel mehr Ausweichstrecken, könnten auch Baustellen ohne große Zeitverluste umfahren werden."

Was spricht gegen die Forderung, das Schienennetz zu erweitern?

Grundsätzlich sei die Forderung berechtigt, meint Professor Ullrich Martin, Leiter des Instituts für Eisenbahn- und Verkehrswesen an der Uni Stuttgart, gegenüber dem WDR. "Gezielte Infrastruktur-Ausbauten beziehungsweise -Ergänzungen" sollten seiner Ansicht nach "engagiert vorangetrieben werden". Die Forderung nach einem generellen Infrastrukturausbau sei aber "in dieser pauschalen Form nicht zielführend".

Porträtbild von Professor Ullrich Martin

Professor Ullrich Martin

Sein Argument: Selbst wenn genügend Geld für eine große Schienennetz-Erweiterung vorhanden wäre, würde das Jahrzehnte dauern. Und es wäre kompliziert, weil die Politik gleichzeitig auch andere Interessen habe: zum Beispiel den Nutzflächenverbrauch und die Flächenversiegelung zu reduzieren, Biotope zu erhalten und so weiter.

"Seit vielen Jahrzehnten veraltete Technik." Ullrich Martin, Verkehrswissenschaftler

Insofern sei es sinnvoll, sich vor allem auf die Sanierung des jetzigen Schienennetzes zu konzentrieren, so Martin. Gleichzeitig müsse aber auch mehr und flächendeckend in neue Fahrzeugtechnik und den Ersatz alter Infrastrukturtechnik investiert werden. Auch dort müsse die "seit vielen Jahrzehnten veraltete Technik" ersetzt werden. Erst dann könne "das komplexe Bahnsystem wieder beherrschbarer" werden, glaubt er.

Über dieses Thema berichtete am 23.06.2022 auch das "Morgenecho" bei WDR 5.

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