"Clarissa" von Stefan Zweig
Stand: 04.11.2024, 07:00 Uhr
"Clarissa" von Stefan Zweig – ein tragischerweise nicht vollendeter, aber dennoch spannender Roman über eine Frau, die ihren Weg geht. Vom Ende der Habsburger-Epoche in Wien bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Eine Rezension von Dirk Fuhrig..
Stefan Zweig: Clarissa.
Herausgegeben von Simoe Lettner und Werner Michler.
Zsolnay, 2024.
304 Seiten, 24 Euro.
Stefan Zweig, gefeierter Großautor der 20er- und 30er-Jahre, musste als Jude 1934 seine Heimat Österreich verlassen. Erst ging er nach London. Dort schrieb er den Roman „Ungeduld des Herzens“, der zu einem Welterfolg wurde. Aus Furcht vor einer Invasion der Nationalsozialisten in England floh Zweig weiter nach Südamerika. “Brasilien. Das Land der Zukunft“ hatte er in seinem Essayband hymnisch gelobt – in Wahrheit fühlte er sich dort meist isoliert. Trotz seiner Niedergeschlagenheit war er zeitweise produktiv. Er schrieb die berühmte „Schachnovelle“. Und er arbeitete an dem Roman „Clarissa“, in dem die Hauptfigur ihr Leben eher durchleidet als gestaltet.
"Von ganzen Jahren wusste sie sich kaum Rechenschaft zu geben, indes einzelne Wochen, ja sogar Tage und Stunden gleichsam wie gestern geschehen noch Gefühl und inneren Blick beschäftigten; manchmal war ihr als hätte sie nur einen geringen Teil mit wachem und beteiligtem Gefühl hingebracht und den andern verdämmert in Müdigkeit oder leerer Pflicht."
Die Passivität Clarissas gegenüber dem Leben nimmt Stefan Zweig als Metapher für die lähmende Stimmung in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Clarissa wächst um die Jahrhundertwende in Wien auf, ihre Mutter ist gestorben, sie wird in einer Klosterschule erzogen. Danach lebt sie bei ihrem Vater, einem hohen Offizier in der österreichischen Armee – dessen Mahnungen vor einem schleichenden Hineingleiten in eine Auseinandersetzung zwischen den europäischen Großmächten vom Generalstab mit Hochmut quittiert werden.
"Vater warnte vor Krieg und der unzureichenden Ausstattung der österreichischen Armee (…) Ihm wird die Pensionierung nahegelegt. (…) Bei uns mag man die Leute nicht, die sich kein Blatt vor den Mund nehmen. Ob einer was ist oder was kann, ist denen Nebensache. Kuschen muss er können oder intrigieren, sonst s:_tellen sie ihm ein Bein."
Die Erstarrung der K.-und-k.-Monarchie in Selbstgefälligkeit ist ein wichtiges Element in diesem Buch, in dessen Mittelpunkt Clarissas Drang steht, sich als – letztlich moderne – Frau in Beruf und im Gefühlsleben selbst zu verwirklichen. Sie fügt sich nicht in die Konvention, sondern will arbeiten und wird Assistentin in der Praxis eines Psychiaters – im Wien des Sigmund Freud damals eine „progressive“ Profession. Stefan Zweig, nichtreligiöser „Jude aus Zufall“, wie er einmal über sich selbst spöttelte, charakterisiert diesen Professor Silberstein mit dem nachlässig-ironischen Unterton, der so typisch für Zweig war – heute mag das recht karikierend wirken:
"Moderiert scharfes Gesicht, jüdische Abkunft, hager, mager, etwas zu hoch, vorgebückt. Nase zu groß. (…) Etwas Ästhetisches."
Auf einem Wissenschaftler-Kongress in Luzern, zu dem sie im Auftrag des Professors reist, lernt Clarissa einen jungen Franzosen kennen. Die leidenschaftliche Affäre endet jäh, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht. Plötzlich sind Österreich und Frankreich Todfeinde.
Das Romanfragment endet zu Beginn der 20er-Jahre. Vermutlich hatte Stefan Zweig vor, Clarissa als eine Frau zu schildern, die ihren weiteren Weg nach ihren eigenen Wünschen gestaltet; womöglich sogar gegen alle äußeren – nationalistischen, bürgerlichen – Widerstände ihren französischen Liebhaber wiederfindet. Eine offen denkende Frau, für die Sprach- und Kulturschranken keine Rolle spielen. So wie für den philanthropischen Weltbürger Stefan Zweig, der in Petrópolis – dem Kurort in den Bergen hinter Rio de Janeiro – noch einmal einen Roman schreiben wollte, der die Epoche von der Gründerzeit bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs umfassen sollte.
"Es ist bemerkenswert, mit welcher literarischen Energie Zweig sein Lebenswerk beschließt, trotz Depression und Aussichtslosigkeit."
So schreiben die Herausgeber dieser Ausgabe, die den unvollendeten Roman als eines von Stefan Zweigs vielversprechendsten Werke bewerten:
"In der Zeit vor dem Freitod (…) schreibt Zweig Texte, die zu seinen besten und haltbarsten gehören."
Der Beginn des "Clarissa"-Fragments erscheint kunstvoll ausformuliert, im Verlauf stehen immer wieder nur Stichworte oder unvollständige Sätze. Das liest sich etwas ungewöhnlich. Man spürt jedoch auch in den Andeutungen, dass daraus ein großer Text hätte entstehen können.