Hörbuchcover: "Gewässer im Ziplock" von Dana Vohwinkel

"Gewässer im Ziplock" von Dana Vowinkel

Stand: 28.09.2023, 12:00 Uhr

Gibt es eine Heimat? Für die junge jüdische Generation in Deutschland ist diese Frage eine Lebensaufgabe. Das macht der Roman von Dana Vowinckel erlebbar. Ein starkes Debüt, meint Rezensent Oliver Cech.

Dana Vowinckel: Gewässer im Ziplock.
Ungekürzte Lesung mit Jaron Löwenberg und Lili Zahavi.
Der Audio Verlag, 2023.
2 CDs, 11h und 6min Laufzeit, 23 Euro.

"Gewässer im Ziplock" von Dana Vowinckel

Lesestoff – neue Bücher 28.09.2023 05:26 Min. Verfügbar bis 27.09.2024 WDR Online Von Oliver Cech


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Zwischen Kindheit und Erwachsensein

"Sie redete sich ein, dass es so war, das Erwachsenwerden. Man übte es tagsüber; nachts wurde man zum Kind. Noch immer schlief sie auf dem Sofa ein, wenn es im Bett nicht klappen sollte, während ihr Vater ihr leise vorsang; noch immer rief sie ihn nachts an, wenn sie traurig war."

Margarita ist 15 Jahre alt. Sie balanciert durch ihre Tage auf der Grenzlinie zwischen Kindheit und Erwachsensein. Ihr Vater Avi singt, er singt nicht nur für sie: Avi ist Kantor einer jüdischen Gemeinde in Berlin.

"Jedid Nefesch, sang er, Geliebter meiner Seele, barmherziger Vater, ziehe deinen Diener zu Deinem Willen, dass er zu Dir hinlaufe wie die Gazelle, Deine Freundschaft sei ihm angenehmer als Honig und alle Köstlichkeiten. – Sein Verhältnis zu Gott war nie so friedlich wie dann, wenn er an ihn dachte als Freund, als Begleiter seiner Stimme, ruhig und sanft."

 Eine unterschwellige Spannung

Zu Beginn des Romans sind Avi und Margarita weit voneinander getrennt. Sie ist zu den Großeltern geflogen, nach Chicago, wie jeden Sommer; er ist allein in Berlin geblieben. Avi lebt für und in seinem Gesang; Margarita dagegen fühlt sich einsam und fremd, das Erwachsensein gelingt ihr noch nicht, das Kindsein aber auch nicht mehr.

Die beiden Perspektiven von Vater und Tochter laufen erzählerisch neben einander her. Fast statisch wirkt die Situation, und doch spürt man die unterschwellige Spannung. Bis sie sich plötzlich entlädt – in diesem Telefonat.     

"'Dein Monolog bringt gar nichts, wenn du mir nicht sagst, worum es geht.' – 'Ich komme schon dazu. Also. Deine Mutter hat mich angerufen…' – 'Sie hätte auch mich anrufen können, wenn es schon um mich geht!' – 'Margarita, lass mich ausreden.' Sie war bereits jetzt so wütend, dass sie kaum wusste, wohin mit sich. – 'Deine Mutter hat gefragt, ob du nicht zu ihr nach Jerusalem kommen möchtest.'"

Viele Fragen an die Mutter

Jerusalem! Margarita hat nicht einmal gewusst, dass ihre Mutter dort lebt. Tatsächlich weiß sie von ihrer Mutter fast nichts und hat sie nie wirklich kennengelernt. Diese Mutter, Marsha, ist ein großes Fragezeichen im Leben ihrer Tochter, ein großes Fragezeichen.

Warum ist Marsha fortgegangen aus Deutschland? Warum meldet sie sich nun, und warum erst jetzt? Margarita schwankt zwischen blanker Wut auf ihre abwesende Mutter und der Hoffnung, in Jerusalem mehr über ihre Geschichte zu erfahren. 

"Und doch, als sie am Flughafen ankam, spürte sie kurz etwas wie Vorfreude. 'Flying home?', fragte sie der Mann an der Passkontrolle, als er den Stempel drückte. 'No', sagte sie, und er erwiderte: 'Leaving home?'. Sie wusste nicht, warum sie nickte."

Auf der Suche nach Heimat

Gibt es eine Heimat? Gibt es ein Ankommen? Für die junge jüdische Generation in Deutschland sind diese Fragen eine Lebensaufgabe; das zeigt der Debütroman von Dana Vowinckel. Die junge Schriftstellerin, Jahrgang 1996, hat mit Margarita eine Figur geschaffen, so hellwach, so dünnhäutig, so reizbar, dass sie einen in emotionalen Momenten fast anspringt – aus dem Buch heraus.

"Sie hatte Durst, und sie war so, so wütend. Das kannte sie nicht: Eine Wut wie eine blanke weiße Wand. Das Wissen, im Recht zu sein."

 Familienzusammenkunft in Jerusalem

Das Buch "Gewässer im Ziplock" ist kein Jugendroman. Auch die erwachsenen Figuren sind glaubhaft gezeichnet, zunehmend vielschichtig im Lauf der Geschichte. Diese Geschichte spitzt sich zu, als alle drei Mitglieder der Familie in Jerusalem zusammenkommen; Margarita erfährt das Geheimnis ihrer Mutter Marsha. Gemeinsam besuchen alle drei das Holocaust Gedenkzentrum Yad Vashem. Und Avi muss erkennen, dass er seine Tochter vor den kollektiven Erinnerungen nicht schützen kann.

"Sie waren nicht vom Blitz getroffen worden. Es stand eine Maschine dahinter, eine deutsche Maschine. Und er hatte das, was Marsha vor 15 Jahren ganz klar gesehen hatte, nicht verhindert. Dass die Nachbeben auch Margarita schüttelten: Eine der Deutschen, die vor Scham weinten. Nicht vor Trauer."

Ein starkes und wichtiges Debüt

Was die Shoah bedeutet, was der Holocaust bedeutet für die heute junge Generation, wie Erinnern ein Teil des Lebens sein kann und muss, wie man daran nicht zerbricht – das ist hier literarisch souverän gestaltet und erfahrbar gemacht. Ein starkes und ein wichtiges Debüt.