"Der Sommer zu Hause" von Ann Patchett
Stand: 03.05.2024, 07:00 Uhr
Die Töchter verstehen das nicht. Wie konnte die Mutter ihre Karriere als Schauspielerin aufgeben, um Farmersfrau zu werden? In dem Familienroman "Der Sommer zu Hause" von Ann Patchett erzählt Lara, wie eins zum anderen kam. Eine Rezension von Dorothea Breit.
Ann Patchett: Der Sommer zu Hause
Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer.
Berlin Verlag, 2024.
400 Seiten, 26 Euro.
Eine Obstfarm im Norden Michigans. Kirschbäume, soweit das Auge reicht, Äpfel und Birnen. Ein Blütenmeer im Frühling. Im Juni beginnt die Kirschernte. Große Süßkirschen, die sich nur kurze Zeit lagern lassen. Jahr für Jahr reisen Saisonarbeiter mit ihren Wohnwagen an, um Lara und Joe bei der Ernte zu helfen. Doch dieser Sommer ist anders.
"Es war ihr Vater, der die auf den Sitzmöbeln herumhängenden, mit ihren Handys beschäftigten Mädchen als die Pflückerkolonne identifizierte, die er dringend benötigte. 'Ich bin ans College gegangen, um keine Kirschen pflücken zu müssen', sagte Nell. 'Das College ist geschlossen', sagte Joe. 'Das College kann dich jetzt nicht beschützen.'"
Die Corona-Pandemie hat die Welt im Griff. Die drei Töchter von Joe und Lara sind unter das schützende Dach der elterlichen Farm zurückgekehrt, wo sie ihre Kindheit mit Kirschenpflücken verbrachten. Emily, 29 Jahre alt, studiert Gartenbau und Agrarwirtschaft, Maisie wird Tierärztin, und Nell, die jüngste, geht auf eine Schauspielschule.
Emily packt zu, sie wird die Farm einmal übernehmen und Benny, den Sohn der Nachbarn, heiraten. Die beiden anderen helfen wie gewohnt, ebenso ihre Mutter Lara, die Ich-Erzählerin in Ann Patchetts Roman "Der Sommer zu Hause". Die Monotonie des Pflückens regt zum Plaudern an. Die Mädchen wollen endlich wissen, wie die Mutter den Vater kennengelernt hat, wo sie doch eine Karriere als Schauspielerin vor sich hatte?
"Schauspielern habe ich in New Hampshire gelernt, als ich noch zur High School ging, von einem State-Farm-Versicherungsagenten. Andere Leute machten zu viel, also machte ich sehr wenig und fiel allein dadurch auf. Mr. Martin brauchte eine Emily, weil alle anderen Emilys schrecklich waren. (...) Bill Ripley war, glaube ich, in einer ähnlichen Lage. Jede Schauspielerin, die er hatte vorsprechen lassen, hatte viel zu dick aufgetragen, und er brauchte jemand Schlichtes für die Rolle. Schlicht war meine Spezialität."
Die Rolle der Emily in "Unsere kleine Stadt" von Thornton Wilder war ihre Lebensrolle. Lara spielte sie noch ein zweites Mal beim Sommertheater in Tom Lake in Michigan. Dort traf sie auf den unwiderstehlichen, noch unbekannten, später berühmten Schauspieler Peter Duke.
Die Mädchen vergöttern ihn! Und können es kaum glauben: Ihre Mutter und der? Geradezu empört reagieren sie dann, als sie erfahren, dass ihr Vater Joe diesen Mann gekannt hat. Was sie nicht wissen: dass Joe dabei war in jenem verliebten Sommertheater. Die Eltern lüften ihr Geheimnis erst später.
"'Wie kommt man jemals über so jemanden hinweg?', fragt Maisie. Womit sie sagen will, dass ich unmöglich über ihn hinweg sein kann und dass ich ihren Vater niemals so sehr geliebt haben kann wie damals Duke. 'Wisst ihr noch, wie ihr uns früher im Sommer immer angebettelt habt, mit euch zum Jahrmarkt zu fahren?' Es liegt mir so viel daran, es ihnen verständlich zu machen. (...) 'Würdest du heute immer noch hinwollen?' 'Vielleicht. Kann sein', sagt sie, aber sie ist vierundzwanzig, genauso alt wie ich seinerzeit in Tom Lake. (...) 'Mir ist nicht klar, warum man das eine für das andere aufgeben muss', sagt sie. 'Von müssen kann nicht die Rede sein', belehre ich meine Tochter. '(...) Eines Morgens wacht man auf und hat genug vom Rummelplatz.'"
Die zwei Erzählstränge, Laras erinnernde Rückschau und die Schilderung der aktuellen Gegenwart, greifen nahtlos ineinander im Frage- und Antwort-Match der Töchter mit der Mutter. Ein regelmäßiger Rhythmus an Cliffhängern strukturiert die Handlung.
Ann Patchett beherrscht das Handwerk traditioneller amerikanischer Erzählkunst, ohne formale oder sprachliche Experimente, aber mit Raffinesse; dem Vergnügen der Schauspielernden an Zitaten, die die Autorin ihren Figuren in den Mund legt, etwa aus Tschechows "Kirschgarten". Mehr braucht sie nicht für ein herzzerreißendes Melodram über Aufstieg und Fall einer talentierten jungen Schauspielerin, Erwachsenwerden und Liebe. Es sind jedoch – so viel sei verraten – nicht Männer, die Laras Karriere besiegeln, sondern ein Tennismatch.
"Das hatte ich mir selbst eingebrockt. Ich trank den Tequila, obwohl ich wusste, dass ich ihn nicht trinken sollte, spielte Tennis, obwohl ich keine Lust hatte. Es klang unspektakulär, und doch kostete es mich alles."
Angesichts der gegenwärtigen Krisen von Pandemie bis Klimawandel erzählt Laras Geschichte nicht zuletzt von der Rückbesinnung auf die wirklichen Bedürfnisse und Werte des Lebens, auch vom Wiederfinden des Glücks in den kleinen Dingen und der Geborgenheit im Schoß der Familie und der Freunde.