Buchcover: "An Rändern" von Angelo Tijssens

"An Rändern" von Angelo Tijssens

Stand: 05.08.2024, 07:00 Uhr

Ein junger Mann kehrt zurück an den Ort seiner Kindheit. Hier erlebte er seine erste Liebe, die jedoch im Verborgenen bleiben musste. Und hier wurde er von seiner Mutter misshandelt. Der belgische Angelo Tijssens erzählt in seinem bewegenden Romandebüt von einem Menschen, der sich den traumatischen Erfahrungen seiner Jugend stellt. Eine Rezension von Holger Heimann.

Angelo Tijssens: An Rändern
Aus dem Niederländischen von Stefanie Ochel.
Rowohlt, 2024.
128 Seiten, 22 Euro.

"An Rändern" von Angelo Tijssens

Lesestoff – neue Bücher 05.08.2024 05:21 Min. Verfügbar bis 05.08.2025 WDR Online Von Holger Heimann


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"Du weißt nicht, was du falsch gemacht hast, aber das spielt keine Rolle. Du umklammerst ihr Handgelenk mit beiden Händen und drückst so fest du kannst, doch du scheinst damit den Griff um deinen Hals noch zu verstärken, wie bei einer Zange. Du hörst immer weniger, aber du siehst ihren Mund auf- und zugehen. Du riechst Zigaretten, du schmeckst sie auch, jetzt, als sie dir ins Gesicht spuckt und den Griff lockert, worauf du tief Luft holst, kurz bevor dein Hinterkopf den Rand der Badewanne trifft."

Mit dieser Erinnerung an traumatische Kindheitstage und die gewalttätige Mutter beginnt der schmale Roman von Angelo Tijssens. Der namenlose Erzähler kehrt nach zehn Jahren erstmals in den Ort seiner Kindheit und Jugend an der Küste Flanders zurück. Anlass ist der Tod der Mutter. Deren Ableben lässt den Sohn gänzlich unberührt, er will lediglich ihre Habseligkeiten entsorgen. Den jungen Mann verbindet nicht mehr viel mit seinem früheren Leben. Und doch verfolgen ihn die Kindheitserfahrungen. Wie die Traumata fortwirken und welchen Umgang sein Protagonist damit findet – davon erzählt Angelo Tijssens in einer konzentrierten Prosa.

O-Ton Tijssens
"Mehr als die Gewalt ist das Fehlen von Sicherheit und Geborgenheit das größte Trauma für ihn. Die Hauptfigur versucht permanent, dieses Loch zu füllen, dieses Loch, das wie ein Raum ist, der immer größer und weiter wird. Er versucht herauszufinden, inwieweit er eine Person ist, die geliebt werden kann. Gewalt hinterlässt Narben, aber die Abwesenheit von Liebe hinterlässt einen Riss in ihm selbst."

Der wiederkehrende Satz der lieblosen Mutter "Du bist nichts" begleitet den Rückkehrer beim Streifzug durch die vertraute Küstenlandschaft und die fremd gewordene Kleinstadt. Doch zu der fern gerückten Vergangenheit zählt auch die Erfahrung von Nähe: die innige Freundschaft zu einem Jungen, die zu einer Liebesbeziehung wurde. Aber es war eine Liebe, die von den beiden Teenagern nicht ausgelebt werden durfte, die sie verbergen mussten. Jetzt begegnen sich die beiden wieder und suchen nach der Vertrautheit von einst. 

"Er zieht mir den Pullover über den Kopf, ich stütze mich ab, um es ihm leichter zu machen. Er dreht mich auf den Rücken. Ich sehe nichts, spüre seine Hände auf meiner Brust, meinem Bauch. Wo sind die Narben? Weiter unten, sage ich. Ja, da. Die sehen schön aus. Wie Zeichnungen. Seine Finger streifen das Narbengewebe. Merkst du das? Ja, sage ich. Er sieht mich an und sagt: Trotzdem bist du intakter als früher. Ich sehe ihn an und er ergänzt: Du bist stärker."

Nahe kommen sich die beiden Männer nur körperlich. Mental sind sie weit voneinander entfernt. Es ist die Distanz von zehn Jahren und von ganz unterschiedlichen Lebenswegen. Nur der Ich-Erzähler hat der alten Heimat den Rücken gekehrt und ist zu etwas Neuem aufgebrochen. Dieses Neue wird nicht auserzählt, es spiegelt sich in einem allmählichen Zu-Sich-Selbst-Finden des Protagonisten. Tijssens zeigt das behutsam und präzise.

O-Ton Tijssens:
"Ich wollte die Sprache als etwas Hoffnungsvolles nutzen. Es gibt eine Hoffnung. Denn da ist eine Distanz zwischen dem Geschehen und dem Moment des Sprechens darüber. Es ist schwierig über Feuer zu schreiben, wenn man brennt. In dem Buch wird nicht nur Gewalt beschrieben, ich erzähle auch vom Nachdenken darüber."

Angelo Tijssens führt zwei problematische Beziehungsgeschichten parallel. Da ist die katastrophale Verbindung zwischen einer Mutter und ihrem Kind, das der Gewalt schutzlos ausgeliefert ist. Und da ist die verbotene Liebe zweier Teenager, die durch die tradierten Normen der Gesellschaft zu Außenseitern gemacht werden.

O-Ton Tijssens:
"Diese beiden Geschichten kommunizieren miteinander. Ich wollte herausfinden, was das ist: Liebe, was diese Liebe ausmacht, wie sehr wir sie brauchen. In beiden Fällen ist es eine Liebe an den Rändern. Es ist nicht die Liebe, die wir gemeinhin ins Zentrum einer Geschichte oder unseres Lebens rücken."

Angelos Tijssens’ Protagonist bleibt nicht am Rand. Er emanzipiert sich von seiner Vergangenheit und von den Zuschreibungen anderer. Tijssens zeigt ihn als einen Suchenden mit Verletzungen und Narben, offen und bereit für die Unwägbarkeiten eines selbstgewählten Lebens.