"Wenn du wüsstest, was ich weiß..." von Charly Hübner
Stand: 06.12.2024, 11:00 Uhr
Der Schauspieler und Sprecher Charly Hübner fächert klug und kundig Uwe Johnsons Werk auf, in dem sich tiefe Mecklenburger Provinz und das Weltgeschehen, Lebensläufe von der NS-Zeit über DDR und BRD, von Ost und West-Europa bis in die USA verbinden. Hübner erzählt aus dem Leben und Werk des Schriftstellers und berichtet zugleich aus seiner eigenen ost-west-deutschen Biographie. Eine Rezension von Christian Kosfeld.
Charly Hübner: "Wenn du wüsstest, was ich weiß…"
Der Autor meines Lebens. Neun Versuche zu Uwe Johnson (Hörbuch). Ungekürzte Lesung mit Charly Hübner
Der Audio Verlag, 1 CD (Laufzeit: 2 Stunden und 44 Minuten), 20 Euro.
"Neulich, ich könnte auch jüngst, kürzlich oder letzthin schreiben, finde aber neulich in seiner unverschämten Schlichtheit einfach sehr schön, neulich also hörte ich mich in einem Gespräch mit zwei Autoren sagen: 'Uwe Johnson ist eh der größte deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.' Eine Übertreibung ohnegleichen."
Aber manche Menschen würden Charly Hübner vielleicht auch zustimmen. Denn wer einmal in das Werk von Uwe Johnson eingetaucht ist, wer sich auf dessen klare, knappe, unspektakuläre Sprache eingelassen hat, mit der er Erzählwelten von Mecklenburg bis nach New York aufspannt, Lebensläufe über Jahrzehnte verfolgt, macht eine einschneidende Lese-Erfahrung. Charly Hübner blickt in neun "Versuchen" auf Leben und Werk des Schriftstellers Johnson, und berichtet aus seiner eigenen ost-west-deutschen Biographie, locker, lakonisch und humorvoll.
"Ich bin weder Literaturwissenschaftler noch Biograph, eigentlich eben nur ein Fan, und so kann das hier nur ein kleiner Jubeltext werden, nennen wir es eine Hommage, die sich querfeldein ümmer de nees lang im Johnson-Kosmos rumtreibt und die eine oder andere Perle ans Licht holen möchte. Mal schauen, was sich da in den Fächern, Kassetten und Büchern so alles versteckt!"
Wie Johnson ist auch Charly Hübner Mecklenburger und ebenso ein kluger, eigensinniger, etwas melancholischer Mann. Hübner denkt zurück, wie ihm in den letzten Tagen der DDR Johnsons "Drittes Buch über Achim" in die Hände fiel, in dem er sein eigenes Erleben gespiegelt fand. Und wie er später in die fast zweitausend Seiten der "Jahrestage" eintauchte, der Geschichte von Gesine und Heinrich Cresspahl, die ein halbes Jahrhundert umfasst. Er hat sie als inzwischen als Hörbuch aufgenommen, zusammen mit Caren Miosga.
"Johnson hatte mich sofort. Dabei war mir die Sprache gar nicht gleich zugänglich. Sie wirkte im Gegensatz zu Fallada erst einmal sperrig, fordernd, verdreht im Satzbau. Auf der einen Seite die alltägliche Gegenwart Gesine Cresspahls im New York der 1960er Jahre, die Beschreibung ihres amerikanischen Lebens dort, das Leben ihrer zehnjährigen Tochter Marie, der Welt der Banken – das war stark, das war cool, das fütterte mein gieriges Fernweh, denn ich hörte ja trotz DDR-Jugend ausschließlich Musik aus Großbritannien und eben Amerika. Dem gegenüber die Familiensaga der Cresspahls und Papenbrocks in Mecklenburg, die in den Dreißiger Jahren beginnt und sich bis Gesines Aufbruch Anfang der Sechziger Jahre zieht – ich verschlang das wie eine Soap. Der dritte Punkt war schlichtweg, dass der Großteil der erzählten Geschichte in Mecklenburg spielte, in meiner Heimat – quasi um die Ecke."
Charly Hübner berichtet, wie er als Jugendlicher fröhlich-aufsässig war, von der Schule fliegen und zur Nationalen Volksarmee sollte, dann Schauspieler wurde, wie er Wende und Wiedervereinigung erlebte und unsere heutige fragile Zeit. Zugleich fächert er klug und kundig Johnsons Werk auf, in dem sich tiefe Mecklenburger Provinz und das Weltgeschehen, Lebensläufe von der NS-Zeit über DDR und BRD, von Ost und West-Europa bis in die USA verbinden. Der einzigartige Chronist Uwe Johnson spiegelte in den Leben seiner Figuren gesellschaftliche Umbrüche, die Politik und Kultur seiner Zeit. Hübner holt uns den heute fast vergessenen Uwe Johnson ganz nah heran. Eine nachdenkliche, flammende Hommage, ein humorvolles und berührendes Doppel-Porträt von und mit Charly Hübner.
"'Seitdem Uwe tot ist, hab ich bei ihm gelesen, daß das Ehrliche und die Wahrheit nicht das Letzte ist. Es ist die Genauigkeit. Diese ist es, mit der man leben sollte, dann kann man auch leichtsinnig und ungenau sein, wenn man weiß und nach Genauigkeit lebt. Genau. Aufn Punkt. Echt also.' Vielleicht liegt in diesem kleinen Brief des Freundes und Schauspielers Wolfgang Neuss an seine Tochter ein knapper Hinweis auf etwas gigantisch Wesentliches, was Johnsons Arbeit markiert. Wie dechiffriert man dieses Wunder Leben, das einen beschenkt oder plagt mit Wellen und Kanten, Chaos und Struktur, Gefühlen und Ignoranz? [...] Man besieht sich die Fakten, studiert die Details, berichtet davon. Ob das die Gefühle beruhigt, sei dahingestellt."