Tim Parks: Hotel Milano
Aus dem Englischen von Ulrike Becker.
Antje Kunstmann Verlag, 2023.
238 Seiten, 24 Euro.
Frank ist Mitte siebzig, gebildet, er lebt in einem ruhigen Stadtteil von London als er die Nachricht erhält, dass sein alter Freund Dan in New York gestorben ist. Dieser hat verfügt, in Mailand beigesetzt zu werden, neben einer früheren Geliebten.
Allerdings war Dan auch einmal der Liebhaber von Franks Ex-Frau Connie, weshalb er darüber nachdenkt, ob sie wohl auch zu der Beerdigung anreisen wird und sich in Erinnerungen an die Beziehung, ihre gegenseitigen Vorwürfe – und die des gemeinsamen Sohnes – erinnert:
"Connie war vielleicht schon da. Im Empfangsraum 3. Das erste Wiedersehen, seit du dich mit Rachel zusammengetan hast. Mum ist am Boden. Bens Stimme durch eine schwache Telefonleitung, über die Jahre hinweg. Du hast sie zerstört, Dad."
Die Fahrt nach Mailand und die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit und Vergänglichkeit setzt Erinnerungen frei. Während Frank im Luxushotel, das er sich für den kurzen Aufenthalt gegönnt hat, die flauschigen Handtücher und das gute Frühstück genießt, denkt er an seine zweite, viel zu früh verstorbene Frau Rachel, an ihre gemeinsamen Reisen und Gespräche.
Die Welt draußen wird derweil in einen nie dagewesenen Stillstand versetzt, den der Nachrichtenverweigerer zunächst gar nicht mitbekommt, bis im Hotel Ausgangssperre verhängt wird und er keinen Rückflug mehr bekommt:
"Mein Zimmer wirkte verändert. Meine Luxuszelle. Der Gedanke, nicht ausgehen zu dürfen, war beunruhigend. (…) Ich erinnerte mich nicht, je ein Hotelzimmer so genau betrachtet zu haben. Meistens checkte ich ein und dann wieder aus. Über dem Schreibtisch hing ein Gemälde. Kirchner nachempfunden, so schien es. Ein männlicher und ein weiblicher Körper, die auf extravagante Art ineinander verschränkt waren. (…) Ich hatte das Bild bisher nicht bemerkt."
Ein wenig scheint es wie in Xavier de Maistres legendärer "Reise um mein Zimmer", die der Aristokrat 1794 verfasste, als er nach einem Duell zu sechs Wochen Hausarrest verurteilt worden war und die Zeit nutzte, um auf andere Weise beweglich zu bleiben.
Zu Beginn der Corona-Pandemie, während des ersten Lockdowns, wurde dieser historische Text viel zitiert und natürlich spielt Tim Parks Roman während der Pandemie, wobei ihm das Kunststück gelingt, deren Auswirkungen zwar anschaulich zu beschreiben, aber sie nicht einmal zu nennen. Frank erlebt – im beschränkten Raum der eleganten Herberge – unerwartete Abenteuer: Er entdeckt eine Familie aus Ägypten, die sich im Stockwerk über ihm versteckt und beginnt, ihnen zu helfen:
"Ich verfiel erneut in eine Art Tagtraum, erforschte im trüben Licht dieser neuen Lage alte Gedanken. Warum wollte ich etwas Nobles tun? Wieder zogen mich meine Gedanken zurück zu jenen letzten Wutausbrüchen mit Rachel. 'Du denkst überhaupt nicht an mich, nur daran, wie verdammt sensibel du bist!' Sie entschuldigte sich. Wir hatten nie gestritten. Leiden ist attraktiv, dachte ich; du bekommst die Gelegenheit, zu glänzen."
Tatsächlich blüht Frank in seiner Hilfsbereitschaft und Fürsorge geradezu auf und wird von einer neuen Lebendigkeit erfüllt, während um ihn herum das Leben durch die Seuche in Gefahr gerät und schließlich auch sein eigenes bedroht. Die gespenstische Situation, die zu Beginn der Pandemie herrschte, vergegenwärtigt dieser Roman auf geradezu beklemmende Weise und erinnert an all die Ängste und Verluste, die längst nicht aufgearbeitet oder verstanden worden sind.
Tim Parks "Hotel Milano" ist ein vielschichtiges Kammerspiel, das die dramaturgischen Möglichkeiten, die ein klar umrissener Schauplatz wie ein Hotel bietet, elegant nutzt. Denn Parks bespielt nicht nur sämtliche Etagen, also vom Dachboden bis zum Keller, sondern er stößt überall Türen auf, die in weitläufige Gedankenräume führen, in denen es um Beziehungen, das Alter und den Tod geht, also um jene letzten Fragen, die uns alle angehen und bewegen.