Buchcover: "Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958" von Carlo Levi

"Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958" von Carlo Levi

Stand: 06.11.2024, 07:00 Uhr

Es ist ein sezierender, analytischer Blick, mit dem Carlo Levi bei einer Reise Ende 1958 auf Deutschland blickt: Er zeichnet dieses Land in tristen Farben; konturenreich zwar, aber düster. Sein Reisebericht „Die doppelte Nacht“ liegt nun in einer neuen Übersetzung vor. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Carlo Levi: Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958
Mit einem Nachwort von Bernd Roeck.
Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker.
C.H. Beck, 2024.
176 Seiten. 20 Euro.

WDR 3 Lesestoff: "Die doppelte Nacht" von Carlo Levi

Lesestoff – neue Bücher 06.11.2024 06:01 Min. Verfügbar bis 06.11.2025 WDR Online Von Ulrich Rüdenauer


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600 verschiedene Titel-Varianten soll Carlo Levi für sein Buch über seine Deutschlandreise im Jahr 1958 notiert haben. "Faust und Hitler" hätte fast das Rennen gemacht. Am Ende wurde es ein abgewandeltes Zitat aus dem zweiten Teil von Goethes Faust – "La doppia notte dei tigli", "Die doppelte Nacht der Linden". Goethes Lynkeus ist da Zeuge eines auf Geheiß von Faust durch Mephisto gelegten Feuers – "Funkenblicke seh ich sprühen / Durch der Linden Doppelnacht".

"Die doppelte Nacht" heißt nun die gerade erschienene Übersetzung von Martin Hallmannsecker, und weiß man um die Referenz, die uns im Nachwort von Bernd Roeck erläutert wird, dann kann man schon ahnen, was das für ein Buch ist: Levi, der italienische Maler und Anti-Faschist, der als Autor von "Christus kam nur bis Eboli" weltberühmt geworden war, zeichnet ein aus dem Geiste Fausts und Hitlers wiederauferstandenes Deutschland. Wie das Reich des Faustus, schreibt Roeck, ist auch Deutschland ein Werk des Teufels.

"Die Gesichter der Passanten, die durch die Kälte eilen, wie sie mir nun, am Tag darauf, auf der Straße, wieder vor Augen stehen, sind jene bürgerlichen und bäuerlichen eines ruhigen, schläfrigen Landes, mit harmlosen Zügen, ohne das Feuer der Leidenschaft in den Augen, verschlossen, ordentlich und schwerfällig."

Einerseits Müdigkeit und Schwermut. Andererseits diese andere Physiognomie des Deutschen, zu bestaunen abends in den Gaststätten und Bierkneipen.

"An rustikalen Tischen, auf Stühlen mit hohen Holzlehnen essen Frauen mittleren Alters Würste und trinken Bier. Sie essen nicht: Sie fressen, verleiben ein, verschlingen, schlucken, kauen, zermalmen, saugen auf, wie riesige Seidenraupen, völlig versunken in die reine Gefräßigkeit."

Etwas kaum verborgen Barbarisches zeigt sich dem italienischen Reisenden: weiche rosige Haut, asymmetrisch herabhängende Wangen, aufgedunsene Körper. Er vergleicht, was er da sieht, mit den Bildern der frühen deutschen Maler: Die hätten in naturalistischer Form ihr Volk abgebildet, weit entfernt von jeder "Idealschönheit".

Frei und unbefangen könnten die Deutschen sich gehen lassen, weil sie sich nie an der idealisierenden Schönheit der Kunst gemessen hätten. Diese durchaus von Ressentiment und gar Ekel geprägte Beobachtung ist der offensichtliche Ausdruck eines tiefen Unbehagens, das Levi während seiner Reise begleitet. Und das er an allen Orten – in München und Augsburg, Tübingen und Ulm, Stuttgart und auf andere Weise in Berlin – bestätigt findet:

"In den Tiefenschichten des deutschen Lebens ereignet sich heutzutage als natürliche Reaktion das Gegenteil des nationalsozialistischen Tatendrangs: Um die Gefahr der unsicheren Gegenwart und der sie begleitenden Angst nicht zu spüren, wegen der Tragweite der Teilung und der inneren Unfreiheit, entscheidet man sich lieber für das Schweigen oder das stumme Getöse der Maschinen, für die Welt des Praktischen."

Selbst wenn er mit den grauen Deutschen spricht, empfindet er dieses "finstere Schweigen", "eine hohle Stille aus Fragen und Erschütterung". "Leere Herzen" schlagen im Takt der Maschinen, die alles übertönen. Nicht zuletzt natürlich die Schreie der Ermordeten. Auch nach Dachau macht er einen Abstecher, zusammen mit seinem Freund, dem Künstler Rainer P. Ob es diesen Rainer P. gibt, ob die erinnerten Gespräche in Bars und Kneipen so stattgefunden haben, man weiß es nicht. Ob Levi zum Beleg seiner These eines moralisch ausgehöhlten Deutschlands doch stark auf seine Fantasie zurückgreift – das bleibt offen, darf aber vermutet werden. Deutschland jedenfalls sei nicht geläutert. Sondern habe sich mit Arbeit betäubt. Fast alle Städte seien tot:

"…zertrümmert von den Bomben, neu und unkenntlich wiederaufgebaut oder geschickt gefälscht."

Das Misstrauen Levis spricht so aus fast jeder Zeile. 1958 war dieses Misstrauen gegenüber einem neuen, anderen, zivilisierten Deutschland ja nicht unangebracht – noch immer tummelten sich die alten Nazis in Politik, Wirtschaft und Justiz. Selbst in der Kultur mischten sie mit. "Deutschland schläft", schreibt Carlo Levi. Was sich an seinen Millionen heimischen Herden zusammenbraue, wenn Sprachlosigkeit und Erschöpfung vergingen, könne heute noch niemand wissen: ein menschlicher Neuanfang, neuer Schrecken oder ein fortdauernder Tiefschlaf.

Bald 70 Jahre sind seither vergangen. Und bis vor kurzem hätte man wohl antworten mögen, dass nach der Nazi-Diktatur wirklich eine erstaunliche Läuterung stattgefunden habe. Betrachtet man allerdings den Einzug Rechtsextremer in die Parlamente, lautstark bekundeten Rassismus, die Skepsis gegenüber der Demokratie, dann war es vielleicht doch nur ein langer Schlaf.