Michael Lentz: Heimwärts
S. Fischer Verlag, 2024.
304 Seiten, 24 Euro.
Auf der Website des Schriftstellers Michael Lentz findet sich unter dem Menüpunkt "Vita" nur ein einziger Satz: "1964 in Birkesdorf geboren". Seine Leser wissen freilich längst, dass der heute zu Düren gehörende Ort und seine Kindheit im Westen der Bundesrepublik diesen Autor geprägt haben. Von einem unumgänglichen "Hineingeborenwerden" sprach Lentz einmal und meinte damit die Landschaft der Eifel, die Lebenswelt der Nachkriegszeit und vor allem die Beziehung zu seinen Eltern.
Bereits 2001 hatte er sich in seinem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichneten Prosastück "Muttersterben" damit beschäftigt, dann wieder 2008 in einem 1000-seitigen Requiem auf seinen Vater. Sein neuestes Buch, "Heimwärts", greift den Faden wieder auf:
"Mein Vater hatte einen Koffer, den er hütete wie seinen Augapfel. Niemand durfte ihn berühren oder gar öffnen. Der Koffer war schwarz wie die Nacht, und wenn Vater ihn aufmachte, war sein Inneres ebenfalls schwarz. Alle Dinge, die Vater in ihn hineinlegte, schienen in einem schwarzen Loch zu verschwinden. Suchte ich im Haus nach diesem Koffer, konnte ich ihn nirgends finden."
"Heimwärts" besteht aus 30 lose zusammenhängenden Kapiteln mit Einwortüberschriften wie "Spieluhr", "Schule" oder "Apfelkuchen". Es sind Erinnerungen an das Elternhaus, eine Kindheit zwischen Aachen und Köln, die alte Bundesrepublik. Die erzählerische Pointe liegt darin, dass der Sohn nun selbst Vater geworden ist. Zwar lernte sein eigenes Kind die Eltern des Autors nicht mehr kennen, aber es stellt Fragen:
"Fragen, die zu stellen ich versäumt habe. Es stellt Verbindungen her, die ich ahnte, aber nicht auszusprechen wagte, es lässt sich nicht bevormunden, schließlich hat es seinen eigenen Mund, und es hat Augen, und was es sieht, sagt es. Dieses Kind lässt sich nicht beirren, es kommt der Beirrung auf die Spur, es malt und zeichnet, und auf seinen Bildern finden die Dinge seiner Umgebung und seiner Phantasie neu zusammen. In diesen Bildern scheinen die Dinge und Bilder meiner Kindheit und Jugend wieder auf."
Es sind Funde im elterlichen Haushalt, Dinge, Bilder, die Lentz seitenlang sichtet. Was soll er wegwerfen, was aufheben? Woran erinnert ihn dies, woran das? Leider macht er selten klar, warum diese Recherche auch für die Leser von Belang wäre.
Seinen Erkundungen fehlt etwas Zwingendes, ins Allgemeine Verweisendes, eine erzählerische Ökonomie, wie man sie von einem sprachlich so hochreflektierten Autor erwartet. Stattdessen plätschern die Betrachtungen dahin:
"Ich unterhielt mich mit den Einmachgläsern, aus denen die Renekloden glupschten und deren straff gespanntes, von einem dicken Gummiring fixiertes Cellophan so schöne Musik machte, wenn man mit dem Finger darüberfuhr. Manche der Einmachhäute waren staubig, andere schon recht alt, bei zu viel Druck der Finger platzten sie leicht. Ich mochte immer nur die höchstens ein Jahr alten Gläser, standen sie zu lange, kristallisierte das Gelee, es wurde dann so fest, dass der Löffel darin stecken blieb."
Das Wort "ich", gewinnt man Eindruck, fällt auf jeder der rund 300 Seiten dieses Buches wenigstens ein Dutzend Mal. Daran ändert, leider, auch der erzählerische Kniff nichts, die Perspektive zu wechseln und den Sohn des autobiografischen Erzählers imaginär als Erwachsenen zu Wort kommen zu lassen.
Im Gegenteil: die an sich charmante Idee des Autors, als Sohn seines Vaters und als sein eigener Sohn zu sprechen, verstärkt nur den ausgeprägten Ich-Bezug. Immerhin, es fällt ihm auch selbst auf:
"Kind sein, Kind bleiben und gleichzeitig Vater werden, das stellte ich mir höchst merkwürdig vor, ein Zweischichtenvater, der in sich das Kind unterdrückt, damit er als Vater dem ihm gegenübersitzenden Kind gerecht werden kann. Und der in dem ihm gegenübersitzenden Kind sich selbst sieht. Dabei ist dieses Kind ein ganz anderer Mensch (…)."
So sehr Lentz’ neuestes Buch um ihn selbst kreist, so materialreich ist es auf der anderen Seite. Es steckt voller genauer Erinnerungen, ist gesättigt mit detailreichen Beobachtungen und plastisch zur Sprache gebrachter Vergangenheit. Wer sich an der Konstruktion des Buches nicht stört und in die dichte Welt kindheitlicher Dinge eintauchen will, kommt bei der Lektüre von "Heimwärts" auf seine Kosten.