Buchcover: "Gras" von Bernhard Kegel

"Gras" von Bernhard Kegel

Stand: 04.04.2024, 12:00 Uhr

Wenn sich zarte Grashalme zu einer üppigen Dystopie auswachsen: Bernhard Kegel simuliert ein spannendes Katastrophenszenario in der verwucherten Hauptstadt. Eine Rezension von Corinne Orlowski.

Bernhard Kegel: Gras
Dörlemann, 2024.
384 Seiten, 25 Euro.

"Gras" von Bernhard Kegel

Lesestoff – neue Bücher 04.04.2024 05:24 Min. Verfügbar bis 04.04.2025 WDR Online Von Corinne Orlowski


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Na, darf es noch eine Katastrophe mehr sein? Wie neuartige Viren die Welt lahmlegen können, haben wir gerade am eigenen Leib erfahren. Aber wie es wäre, wenn eine mutierte Pflanze eine Stadt zerstört, sodass Millionen Menschen aus ihren Wohnungen evakuiert werden müssen?

Scheint unvorstellbar, ist aber nicht abwegig. Dieses Untergangsszenario spielt Bernhard Kegel in seinem neuen Roman durch. Er beginnt damit, dass die Biologie-Studentin Natalie Hernes auf ihrem Weg zur U-Bahn-Station über ein winziges Gras-Büschel stutzt.

"Zwischen den Steinen zwängten sich dicht an dicht feine schmal lanzettförmige spitz endende Hälmchen ans Licht, nur wenige Millimeter lang, aber von einem hellen, intensiven Grün. Sie schienen geradezu zu leuchten."

Ein paar Wochen später sind die Halme kniehoch. Mitten in Berlin, am Bundesplatz im Südwesten der Stadt, entsteht eine Wiese. Die Anwohner freuen sich über die unerwartete Naturentfaltung und Natalie ist fasziniert. Sie ahnt: hier stimmt etwas nicht. Bald wuchert das Gewächs überall: in Pflastersteinritzen, auf Baumscheiben, direkt auf Häuserwänden und an Straßenlaternen.

"Als Biologin wird man ja sonst mit Hiobsbotschaften konfrontiert, aber hier lief es ausnahmsweise mal andersherum, hier holte sich die Natur verlorenes Terrain zurück, frech, erfolgreich und in atemberaubender Geschwindigkeit. Mittlerweile war mir auch ein Name eingefallen: Invicta, die Unbesiegte."

Das Invicta-Gras scheint unzerstörbar. Ausreißen, Gift sprühen, den Boden ausheben – nichts hilft. Bald schon drückt das Gras ganze Pflastersteine hoch, zerstört den Asphalt. Berlin versinkt im Verkehrschaos, in einer Müll- und Versorgungskrise.

"Die Mitarbeiter vom Grünflächenamt und der Senatsverwaltung tauschten hilflose Blicke aus. Was ich herausgefunden hatte, traf sie völlig unvorbereitet. Mit so etwas, mit so einer […] Horrorpflanze ist noch keine Stadt konfrontiert worden."

Das Gras wächst Berlin innerhalb von drei Jahren sprichwörtlich über den Kopf, es wird an die zwei Meter hoch. Die Stadt muss evakuiert werden. Doch Natalie entscheidet sich zu bleiben, als Chronistin. Sie war schließlich die erste, die "Invicta" entdeckt hat und will herausfinden: Ist das Gras Folge einer Gen-Manipulation? Hat es jemand bewusst gezüchtet und als Biowaffe ausgepflanzt? Oder wehrt sich die Natur einfach?

"Ich wusste, dass ein Viertel der Landflächen unseres Planeten aus Grasland bestand, dass nur vier Grasarten, Weizen, Roggen, Reis und Hirse, sechzig Prozent der von Menschen aufgenommenen Kalorien lieferten. Gräser haben uns zum Menschen gemacht."

Bernhard Kegel erzählt aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Natalie und verwebt zwei Zeitebenen miteinander zu einem dystopischen Ökothriller. Die eine erzählt vom brutalen Siegeszug des Grases. Die andere spielt mitten in der Katastrophe: Natalie ist ein kleines, eigenwilliges Mädchen zugelaufen.

Mit ihr lebt sie in einer Supermarkt-Baracke – oder eher: kämpft ums Überleben. Sie muss sich vor Insekten in Acht nehmen, die tödliche Schwärme bilden, vor bissigen Hunden und umherziehenden Banden. Kegel zeichnet eine Robinsonade in einer urbanen Savanne.

"Jeden Tag sehe ich, was Invicta innerhalb weniger Jahre aus den Straßen gemacht hat. Es hat uns einfach vor die Tür gesetzt. Heute würde ich viel dafür geben, wenn ich damals am Bundesplatz die ersten zarten Pflänzchen mit Stumpf und Stiel ausgerottet hätte."

Kegel schafft eine unheimliche Grundatmosphäre, vor allem durch Auslassungen. Doch das hat seine Tücken. Lesend sammelt man die wenigen Informationen zusammen, um in der Geschichte zu bleiben. Und die Sprache macht das nicht unbedingt einfacher, sie wirkt hölzern.

Was einen dranbleiben lässt, ist die spannende Idee vom Widerstand einer Pflanze. Denn wie genmanipulierte und invasive Arten die biologische Vielfalt gefährden, ist schon Realität: der Götterbaum, der in Parks außer Kontrolle gerät oder die Halsbandsittiche, die etliche Städte in Schwärmen überfliegen.

Kegels biotechnologische Simulation fasziniert und erinnert an das globale Katastrophenszenario, das Frank Schätzing in "Der Schwarm" entworfen hat. Auch darin lehnt sich die Natur gegen den Menschen auf. Wer über die literarischen Schwächen von "Gras" hinwegsehen kann, wird Freude am Rachefeldzug dieser Pflanze haben.