Buchcover: "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" von Julia Jost

"Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" von Julia Jost

Stand: 26.02.2024, 12:00 Uhr

1994, ein Dorf in Kärnten. Die elfjährige J. und ihre Familie verlassen den idyllischen Gutshof am Fuß der Karawanken. Die Nachbarn, die beim Umzug helfen, haben alle Geheimnisse und J. kennt sie alle; weiß von Missbrauch, Betrug und Naziverehrung. Ironisch, schonungslos, sprachlich genial. Eine Rezension von Theresa Hübner.

Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht
Suhrkamp, 2024.
231 Seiten, 24 Euro.

"Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" von Julia Jost

Lesestoff – neue Bücher 26.02.2024 05:28 Min. Verfügbar bis 25.02.2025 WDR Online Von Theresa Hübner


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Ein elfjähriges Mädchen – wie es heißt ist nicht klar, aber ihr Name beginnt mit J – sitzt unter einem LKW und spielt "Verstecken" mit ihrer besten Freundin. 

"Ich höre sie leise durch das Menschengemenge: 'einundneunzig, neunzig, neunundachtzig…' in die Mauer unseres nunmehr ehemaligen Wohnhauses zählen."

Es ist 1994 in Kärnten und die Ich-Erzählerin lebt mit ihren Eltern und zwei Brüdern auf dem "Gratschbacher Hof", malerisch gelegen, mit Blick auf das mächtige Gebirgsmassiv der "Karawanken". Doch die Eltern haben den Hof verkauft, es ist Umzugstag.

Von ihrem Versteck aus beobachtet die Elfjährige das Umzugsgewusel der Erwachsenen um sie herum als plötzlich aus einer Kiste ihr altes Klassenfoto fällt. Darauf ist auch Franzi, der fünf Jahre zuvor neu in ihrer Klasse war. Um in die Dorfclique aufgenommen zu werden, muss er eine Mutprobe mit einem Messer bestehen. Das hat Ludwig, genannt Lindwurm, mitgebracht.

"Der Lindwurm schob den aus Verlegenheit eingefrorenen Franzi beiseite und griff nach seinem sehr besonderen Messer mit der Gravur 'Meine Ehre heißt Treue', das er der großväterlichen Waffenkammer heimlich entnommen hatte."

Doch das "sehr besondere Messer" fällt versehentlich in einen Brunnen. Franzi soll es zurückholen, die Kinder binden ihn dazu an ein Seil.

"Einen Meter nach dem anderen seilten wir ihn ab ins dunkle Loch [...]. Plitsch, plitsch, plitsch. Und dann folgte nach einer Weile das Platsch, zu dem wir schlagartig nach hinten kippten, das nun lose Tau in unseren Volksschulhänden. Dann hörten wir es gurgeln und zuckeln aus dem Brunnen, bevor es still wurde im Wald."

Die Geschichte des toten kleinen Franzi sorgt dafür, dass man gleich beim Lesen der ersten Seiten dieses Buches die Luft anhält. Sie ist ein roter Faden der Geschichte, immer wieder erinnert sich die Erzählerin an weitere Details der Tragödie.

Julia Jost hat ihren Roman dramaturgisch geschickt aufgebaut: Das LKW-Versteck des Mädchens am Umzugstag ist die Basis, von dort aus berichtet das Mädchen und breitet ein ganzes Panorama des Kärnter Dorfes aus. Nach und nach kommen immer mehr Nachbarn und Bekannte, um beim Umzug zu helfen.

Sie alle haben ihre großen und kleinen Geheimnisse und die Elfjährige kennt sie alle. Sie weiß von schlimmen Trinkgelagen, wer wen betrügt und welche Väter ihre Kinder verprügeln. Und auch über die eigene Familiengeschichte weiß sie Bescheid, zum Beispiel wie die Großmutter den Großvater kennengelernt hat.

"Die Berti-Oma lief oft am Flughafen vorbei und an den Plakaten. Es waren NSDAP Plakate. Einmal blieb sie vor einem solchen mit der Aufschrift 'Ein Volk, ein Reich, ein Führer!' stehen, das Hitler im Profil zeigte. Bis sie von einem jungen und sehr großen Mann unterbrochen wurde 'Gehst liaba mit ihm oda liaba mit mia auf an Getreidekaffää?' fragte der Opa. Und weil die Oma Politiker generell abstoßend fand, ging sie mit meinem Opa auf einen Getreidekaffee und heiratete ihn."

Julia Jost baut reichlich Kärntner Dialekt in ihren Roman ein, aber immer wird dieser geschickt übersetzt, und zudem kursiv gedruckt, was dem Nicht-Dialektkundigen Leser hilft. Und obwohl sich reichlich Abgründe in den Biografien der Nachbarn auftun, obwohl in der bergigen Idylle ein politisch tiefbrauner Sumpf heranwächst, ist "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" auch voller Ironie und Humor.

Es ist ein Witz, der oft aus der Unschuld und der unbefangenen Erzählweise dieser cleveren und durchaus wehrhaften elfjährigen Erzählerin entsteht. Julia Jost lässt ihre Heldin beobachten, die Leserinnen und Leser aber eigene Schlussfolgerungen ziehen.

"Geh ruhig tiefer hinein. Immer dem Dunkel nach. Und der Stille."

Tiefer reingehen – genau das tut Julia Jost in ihrem großartigen Debütroman. Ihre Coming-of-Age Geschichte geht dahin, wo es wehtut, sie zeigt, wie der in den 90ern aufblühende Rechtspopulismus um Jörg Haider und seine FPÖ die Gesellschaft vergiftet hat, ein Gift, das heute noch nachwirkt.

"Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht" ist eine bitterböse, schonungslose Abrechnung mit braunem Vergangenheitskitsch und moralischer Bigotterie zwischen Kruzifix und Stammtisch.