"Weit entfernte Väter" von Marina Jarre
Stand: 07.11.2024, 07:00 Uhr
Marina Jarre erzählt in einer poetischen, dennoch präzisen Sprache von ihrem Leben in einer russisch-jüdisch-italienisch-christlichen Familie in Riga, dem Umzug 1935 nach Italien, von den Menschen, die sie prägten, schönen oder auch erschreckenden Erfahrungen. Sprecherin Theres Hämer verfolgt Jarres assoziative Erzählfäden neugierig-staunend und findet dabei einen wunderbar leichten Erzählton. Eine Rezension von Christian Kosfeld.
Marina Jarre: Weit entfernte Väter (Hörbuch)
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull.
Gelesen von Therese Hämer.
Der Diwan, 2024.
1 CD (Laufzeit 6 Stunden und 27 Minuten), 24 Euro.
Wie wird man, wer man ist? Marina Jarre erzählt davon in einer poetischen, dennoch präzisen Sprache von ihrer Kindheit und Jugend in zwei Kulturen: zwischen Lettland und Italien, dem weichen, fast dandyhaften Vater und der strengen, herrischen Mutter, den russisch-jüdischen und den italienischen-christlichen Großeltern.
"Italien, die Heimat meiner Mutter, wo es immer warm war und man lange Stunden im Garten verbrachte. Was machte da schon der Durchfall, der meine Sommerferien wegen des zu vielen, noch grün von den Bäumen gepflückten Obstes begleitete. Meine Schwester und ich sind in Riga geboren. Ein Foto von mir mit fünf Jahren: Das Haar zu zwei dicken Zöpfchen links und rechts neben dem kleinen Gesicht geflochten, gekleidet in das feine Kordsamtkleidchen, das, wie alle anderen, meine Mutter ausgesucht hat."
Marina ist ein eigensinniges, fast rebellisches Kind, ganz anders als ihre ältere Schwester Sisi. Sie liebt Lesen, erfindet Geschichten, Abenteuer, Märchen, träumt sich in eine eigene Wirklichkeit. Doch die Eltern aus den unterschiedlichen Familien und Kulturen leben sich auseinander.
"Mein Vater redete schlecht von den Italienern, vor allem von einem – ein gewisser Mussolini –, den ich eine Zeitlang ebenfalls für einen Geher hielt. Auch von den Sowjets und den Deutschen redete er schlecht. Er versuchte mir ein seltsames Deutsch beizubringen – Jiddisch – und amüsierte sich köstlich, wenn ich es aussprach wie er. Mama wurde böse und sagte, er sei wütend auf die Deutschen, weil er es nicht geschafft habe, sein Studium in Deutschland zu beenden."
Mit 10 Jahren sieht Marina ihren Vater zum letzten Mal. Er und der gesamte jüdische Familienzweig werden im Holocaust ermordet. Die Mutter geht mit den beiden Mädchen 1935 nach Italien, in ein Örtchen bei Turin. Sie gehören der christlichen Freikirche der Waldenser an. Doch weder in der jüdisch-russischen, noch in der christlich-romanischen Kultur wird Marina heimisch. Sie bleibt fremd in dem Örtchen Torre Pellice. Nur die Literatur bietet ihr eine Zuflucht.
"Manchmal kam es vor, dass ich während der Ferien wochenlang keinen Fuß vor das Gartentor setzte. Im Sommer durfte ich allein in dem Kämmerchen unter dem Firstbalken wohnen. Während ich mich mit meinen Büchern in dem warmen, staubigen Geruch der Holzwände einrichtete, war ich hin- und hergerissen zwischen der Zufriedenheit, mich dort einschließen zu können, und der Abscheu vor den Mauerseglern, die überall ringsum nisteten."
Marina Jarre erzählt in einem glasklaren, gerade in seiner Nüchternheit aber auch anrührenden Stil, von den Menschen, die sie prägten, von Konflikten, schönen Erlebnissen, und schrecklichen Erfahrungen. Sie beginnt als Jugendliche, zu schreiben, schließt sich im faschistischen Italien christlichen Widerstandsgruppen an, und gründet nach dem Krieg ihre eigene Familie. Sie heiratet allerdings nicht ihre große Liebe Giorgio, sondern Gianni, der ihr Sicherheit bietet.
"Doch er besaß eine blendende Überzeugungskraft, in der sich seine Leidenschaft für mich mit geistvoller Klugheit mischte. Von dieser Überzeugungskraft ließ ich mich mitreißen wie von einem Abenteuer, das mir den Zauber der ersten wirklichen Erfahrung verhieß: Die Liebe kehrte nicht zu mir zurück, sie war noch gar nicht erobert worden, sondern kam von außen, zwang sich auf wie eine 'weltliche' Entscheidung. Ich entschied mich genau für den Mann, für den mich zu entscheiden mir die Zukunft eingab."
Therese Hämer hat "Weit entfernte Väter" für den Hörverlag Der Diwan eingelesen. Sie verfolgt Jarres assoziativen Erzählfäden neugierig-staunend, findet für den sachlichen Stil einen wunderbar leichten Erzählton. Doch gerade dadurch wirken die vielen kleinen Szenen eines Lebens besonders eindrucksvoll. Mit diesen über sechs Hörbuch-Stunden kann man ein faszinierendes europäisches Leben entdecken, und eine große europäische Erzählerin.