Buchcover: "Glänzende Aussicht" von Fang Fang

"Glänzende Aussicht" von Fang Fang

Stand: 05.02.2024, 12:00 Uhr

Der Debütroman einer der berühmtesten chinesischen Autorinnen erstmals auf Deutsch: Fang Fang schreibt unerschrocken über Gewalt in einer Arbeiterfamilie im Wuhan der Achtzigerjahre. Ein schmales Buch, das lange nachhallt. Eine Rezension von Corinne Orlowski.

Fang Fang: Glänzende Aussicht
Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann.
Hoffmann & Campe 2024.
176 Seiten, 24 Euro.

"Glänzende Aussicht" von Fang Fang

Lesestoff – neue Bücher 05.02.2024 06:01 Min. Verfügbar bis 04.02.2025 WDR Online Von Corinne Orlowski


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Es ist schier unvorstellbar: In einer heruntergekommenen Holzhütte, in einem dreizehn Quadratmeter kleinem Zimmer hausen elf Menschen. Alle sieben Minuten donnert ein Zug direkt an der Dachtraufe vorbei.

Aber noch unvorstellbarer als die Armut ist die Gewalt, mit der der Vater die Mutter, die zwei Töchter und seine sieben Söhne malträtiert – und wie sie die hinnehmen.

"Dass Vater ein echter Kerl war, unterliegt keinem Zweifel. Alle in der Familie beteten ihn an, vor allem natürlich Mutter. Ihr einziger Stolz im Leben war der Besitz eines Mannes wie Vater. Obgleich sie in den vierzig Jahren ihrer Ehe unzählige Male verprügelt worden war, erfüllte ihr Leben sie mit Genugtuung."

Der kräftige Vater ist Teil einer mafiösen Schlägertruppe. Er ist Hafenarbeiter, Analphabet – und ein Trinker. Doch er empfindet seine Art zu leben als erfüllend. Und so nehmen auch die Kinder die verheerenden Lebensbedingungen hin, sammeln stoisch Müll und ertragen die Prügel.

In der patriarchalischen und strikt hierarchisch organisierten Familie haben die Kinder keine Namen, sondern Nummern. Sohn Acht stirbt kurz nach der Geburt. Dieses tote Baby ergreift das Wort und erzählt von seiner Familie.

"In aller Stille habe ich das Leben und Aufwachsen meiner Geschwister beobachtet, ihre Kämpfe mit den armseligen Verhältnissen und ihre Prügeleien untereinander. Ich habe jeden von ihnen aus dem Fenster gelehnt sagen hören, der kleine Bruder Acht habe es von allen am besten getroffen."

Die Perspektive des toten Neugeborenen sorgt bei Erscheinen des Buches in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts in China für Aufsehen. Und wirkt sogar heute noch befremdlich. Denn die Erzählstimme bleibt trotz des familiären Involviertseins distanziert und angesichts der Brutalität erschütternd unberührt.

Was heute so unvorstellbar daherkommt, muss damals in China grausame Realität gewesen sein. Der Roman begründet seinerzeit, in der die Kommunistische Partei das Dogma des "Sozialistischen Realismus" verfügte, die Gattung des "Neorealismus". Denn die 1955 in Wuhan aufgewachsene Fang Fang stimmt nicht in den vorgeschrieben Lobgesang auf die Erfolge der ideologischen Umgestaltung ein.

"Das Leben war ein Ameisendasein, der Tod wie ein Staubkorn. War das nicht die Beschreibungen unzähliger gewöhnlicher Existenzen? Wie groß war der Unterschied zwischen einem Lebenden und einem Toten?"

Fang Fang strebt einen "tatsächlichen Realismus" an und beschönigt nichts. Um ehrlich zu sein, zeichnet sie die Hölle auf Erden. Daher vielleicht auch die Wahl der ungewöhnlichen Erzählperspektive des unter der Erde liegenden Babys, das dort von mehr Wärme umgeben ist, als die Lebenden.

Bruder Acht erzählt von seinen Geschwistern, unchronologisch und sprunghaft. Er legt wenig Wert auf Handlung, sondern mehr auf die Eigenschaften seiner Brüder, die alle durchtrieben, gefühlskalt und gewalttätig sind. Wie verlorene Seelen stolpern sie durchs Leben. Nur Bruder Sieben, der es von allen am schwersten hatte, macht den großen Sprung, ins Parteikomitee.

"Bruder Sieben kehrte drei Jahre nicht nach Hause zurück. Daher geriet die ganze Familie völlig aus der Fassung, als er drei Jahre später vor Energie und Lebensfreude strotzend an der Wohnungstür erschien. 'Was glotzt ihr so dumm? Habe ich nicht genau wie ihr sieben Öffnungen im Kopf?', fragte er."

Liest man den Roman "Glänzende Aussicht" heute, bleibt man stumm zurück. Da helfen auch nicht das Nachwort und die Fußnoten von Übersetzer Michael Kahn-Ackermann. Er ordnet den Text zwar sehr gut in Zeit und Gesellschaft ein, holt ihn aber nicht ins Heute.

Weshalb einen die unbekümmerte Erzählstimme, mit der die katastrophalen Verhältnisse im Roman beschrieben werden, nur erschreckt. Dabei macht die Monotonie der Sätze innerlich fast stumpf. Sie sind kurz, in einfacher Sprache gehalten und reihen sich im immer gleichen Rhythmus aneinander. Darunter einige von beunruhigender Banalität.

"Von klein auf waren die beiden Brüder Übeltäter. Sie schreckten vor nichts zurück, Schlägereien, Beschimpfungen, Diebstahl und Raub, Verführung und Vergewaltigung von jungen Frauen. Erst als sie heirateten und Kinder zeugten, verlief ihr Leben in geordneten Bahnen."

"Glänzende Aussicht" ist ein schmales Buch, das lange nachhallt und ein dichter Roman, voll Intensität. Damals mag dieses literarische Experiment sensationell und befreiend für viele Chinesen gewesen sein. Hier und heute fühlt sich dieser gefühlskalte Text eher wie ein Schlag ins Gesicht an.