Buchcover: "Rilke. Der ferne Magier" von Gunnar Decker

"Rilke. Der ferne Magier" von Gunnar Decker

Stand: 05.01.2024, 12:00 Uhr

Frauenheld, Heimatloser, großer Poet – nach langer Zeit liegt endlich wieder eine umfassende Biografie über Rainer Maria Rilke vor. Eine Rezension von Andreas Wirthensohn.

Gunnar Decker: Rilke. Der ferne Magier: Eine Biographie
Siedler, 2023.
608 Seiten, 30 Euro.

"Rilke. Der ferne Magier" von Gunnar Decker

Lesestoff – neue Bücher 04.01.2024 05:33 Min. Verfügbar bis 03.01.2025 WDR Online Von Andreas Wirthensohn


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Der große Dichter Rainer Maria Rilke, er war eine widersprüchliche Persönlichkeit und gab schon früh Anlass zu einigen Missverständnissen. In jungen Jahren trug der 1875 in Prag Geborene noch seinen ursprünglichen ersten Vornamen René und enttäuschte damit gleich seine erste Liebe.

Sie hieß Valerie von David-Rhonfeld – Rilke bevorzugte  Damen von Adel – und hatte sich einen eleganten Franzosen vorgestellt, fand ihn dann aber äußerlich fast schon abstoßend. Immerhin sein "Geist" zog sie – wie so viele Frauen nach ihr – in den Bann, und so opferte sie sogar ihr Weihnachtsgeld, um den Druck erster Rilke-Gedichte zu ermöglichen.

Ein paar Jahre später nannte er sich auf Anraten seiner lebenslang größten Liebe Lou Andreas-Salome dann Rainer Maria Rilke, und unter diesem Namen schickte er seinen zweiten Gedichtband unter anderem an den großen Theodor Fontane. Der antwortete freundlich, aber Rilke musste bei aller Freude eines richtig stellen:

"Sie haben (…) durch meinen zweiten Vornamen verleitet, in mir eine Dame gesehen; dies ist nun nicht der Fall – ich bin männlichen Geschlechts und hoffe mich auch im Leben stets männlich im besten Sinne zu betätigen."

Das tat er dann auch, zumindest teilweise. Rilke und die Frauen, das ist ein zentrales Thema in Gunnar Deckers einfühlsamer Biografie, und die zahlreichen Beziehungen waren mal platonischer, mal durchaus sinnlicher Natur. Bei Frauen suchte Rilke vieles: finanzielle Unterstützung, Mütterlichkeit, den Musenkuss und auch an jüngeren Wahltöchtern gab es einige.

Dabei war Rilke verheiratet und hatte eine Tochter, doch als Ehemann und Vater war er, man muss es so offen sagen, ein völliger Versager. Von seiner Frau Clara Westhoff lebte er die meiste Zeit getrennt, und die Tochter Ruth wuchs bei den Großeltern auf. 1919, sieben Jahre vor seinem Tod, sah er Ruth zum letzten Mal. Er kam weder zu ihrer Hochzeit noch zur Geburt des Enkelkinds.

Rilke kultivierte die Einsamkeit. Sobald Frauen zu viel von ihm wollten, zog er sich zurück, und wirkliche Nähe praktizierte er vor allem in seinen unzähligen Briefen. Als Mimi Romanelli, für die er in Venedig kurzzeitig entflammte, ihm zu sehr auf die Pelle rückte, schrieb er ihr:

"Vergessen Sie niemals, dass ich der Einsamkeit gehöre, dass ich niemanden brauchen darf, dass mir all meine Kraft aus der Ungebundenheit entsteht, und ich versichere Sie, Mimi, ich flehe jene an, die mich lieben, meine Einsamkeit zu lieben, andernfalls müsste ich mich vor ihren Augen, vor ihren Händen verbergen, wie ein wildes Tier sich vor der Nachstellung durch seine Feinde verbirgt."

Mit Gunnar Deckers Biografie kommen wir dem Menschen Rilke beeindruckend, aber nie ungebührlich nahe: seinen lebenslangen Geldsorgen, seiner Heimatlosigkeit, die ihn ständig von einem Ort zum nächsten trieb, seiner Vampirnatur, wie Decker das nennt: Rilke hat keinerlei Hemmungen, andere um Hilfe welcher Art auch immer zu bitten, erweist sich gleichzeitig aber als immun gegenüber den Sorgen anderer.

In Gelddingen war er ein großes Kind, und sein Hang zur mönchischen Askese stand in einigem Widerspruch zu seiner Luxusliebe. Gern logierte er in den besten Hotels, und Bahn gefahren wurde natürlich 1. Klasse.

Aber auch der Schriftsteller Rilke wird in seiner literarischen Unbedingtheit sichtbar. Seine Lyrik, vor allem natürlich die spätere seit dem Band "Neue Gedichte" von 1907, reicht tatsächlich, wie er schreibt, bis an den Grund unserer Existenz. Rilke war kein intellektueller Autor, er selbst las wenig.

Poesie entsprang bei ihm ganz dem Hören und dem Sehen, und wie im Falle der letzten Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus flossen die Verse oft innerhalb von ein paar Tagen wie in einem Rausch aus ihm heraus.

"Gesang ist Dasein" heißt es in diesen Sonetten, und tatsächlich war die Dichtung für Rilke Zeichen des Lebens und Liebens, die beide immer schon vom Tode her gedacht wurden, ein Trotzdem, das er der ihn lebenslang plagenden Existenzangst abrang und entgegenstellte. Sinnbildlich dafür steht das literarische Motiv der Rose:

"Der Todesbezug der Rose besteht für Rilke nicht nur darin, dass ihre Blütenblätter unweigerlich welk werden und absterben. Nein, ihr ganzes Blühen und Duften ist auf ein großes Dennoch angelegt: dem Tode abgetrotzte Schönheit. Denn der Tod wächst vom ersten Knospen an mit – dieses Wissen durchzieht Rilkes Dichtung."

Deckers Biografie ist vorzüglich lesbar und kenntnisreich, sie weiß die Materialfülle aber auch klug zu bändigen und besticht vor allem durch ihre distanzierte Empathie. Und so nahe wir dem Menschen Rilke damit auch kommen: Von seiner dichterischen Größe nimmt ihm diese Lebensbeschreibung kein bisschen. Im Gegenteil.