Buchcover: "Martha und die Ihren" von Lukas Hartmann

"Martha und die Ihren" von Lukas Hartmann

Stand: 07.05.2024, 07:00 Uhr

Martha kommt aus ärmsten Verhältnissen und will nur eins: Arbeit und Sicherheit, für sich und für ihre Familie, egal was es sie kostet. Und das bestimmt ihr ganzes Leben. Eine Rezension von Jutta Duhm-Heitzmann.

Lukas Hartmann: Martha und die Ihren
Diogenes Verlag, 2024.
304 Seiten, 25 Euro.

"Martha und die Ihren" von Lukas Hartmann

Lesestoff – neue Bücher 07.05.2024 05:14 Min. Verfügbar bis 07.05.2025 WDR Online Von Jutta Duhm-Heizmann


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Martha träumt.

"Der andere ist da, der Unsichtbare,
er schnauft, er macht Geräusche,
vielleicht beschützt er mich vor dem Neuen,
er ist mitgekommen, er tut mir nichts."

"Er" ist die Angst, die sie immer begleitet, dieses schreckliche Gefühl, ausgeliefert zu sein, nein, nicht nur ein Gefühl, es ist die Wirklichkeit, ihr eigenes armseliges Leben. Anfangs gibt die Familie Wärme und Schutz, bis der Vater nach einem Unfall die Arbeit verliert, die Mutter sich halbtot schuftet und doch den Verfall nicht aufhalten kann. Die sechs Geschwister kommen getrennt in anderen Familien unter, sie sehen sich nie wieder.

"Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie den­ken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden."

"Martha und die Ihren" von Lukas Hartmann

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Die achtjährige Martha landet auf einem kleinen Bauernhof, in der Hackordnung die letzte dort, ewig hungrig, das Lager ein Verschlag, ansonsten nur Arbeit, aber immerhin kann sie zur Schule gehen. Sie ist intelligent und wäre begabt für eine höhere Bildung, doch dazu fehlt das Geld. Also arbeitet sie nach Ende der Schulzeit als Näherin in einer Fabrik.

"Wenn es ihr schlecht geht, betet Martha manchmal, wie sie es gelernt hat. Sie merkt aber, dass das nicht zu ihr passt. (…) In sich erkennt sie vor allem den eisernen Willen voranzu­kommen. Oder auch: sich Unabhängigkeit zu erkämpfen."

Das gelingt ihr – aber um einen bitteren Preis.

Der Schweizer Schriftsteller Lukas Hartmann – bekannt für seine oft historischen literarischen Porträts, über den jüdischen Sänger Josef Schmidt etwa oder den Maler Louis Soutter – hat in seinem Roman "Martha und die Ihren" die Geschichte der eigenen Familie verarbeitet. Verfremdet, wie er im Nachwort schreibt, um Distanz zu bekommen zu dieser vergangenen und doch so nahen Welt: Die Welt seiner Großmutter.

"Sie ist für mich die prägende Figur der Familie geworden."

Allerdings mit unüberbrückbarem Abstand. Denn Martha sorgt zwar für ihren Mann und die beiden Söhne, tut ihre Pflicht, aber für Wärme und Liebe reichen Zeit und Kraft nicht aus. Auch ihre Weltsicht bleibt beschränkt: Kriege? Ja sicher, irgendwo, doch nicht in ihrer Stadt, was geht sie das also an. Politisch-sozialer Protest – wozu soll das gut sein?

Ein Frauenschicksal, vielleicht typisch für ihre Zeit, ihre Klasse. Viele Jahre später wird ihr Enkel Bastian im Altersheim am Bett der Großmutter sitzen und zuhören, wie sie aus ihrem Leben erzählt, erst widerwillig, dann so herzzereißend offen wie nie zuvor.

"Da ist er wieder, der Dunkle, der Unsichtbare,
so lange war er weg. Die Kinderzeit bringt er mit,
die alte Angst. Ganz verscheuchen konnte ich ihn nie.
Ich habe immer gewusst, dass er wartet."

Bastian gehört der Enkelgeneration an, die erste, die wirklich den Aufstieg schafft. Großmutter Martha hat mit ihrem eisernen Willen den Grundstein gelegt; die Söhne klettern schon etwas höher auf der sozialen Standesleiter, doch dieser Kampf kostet sie zuviel Kraft – sie erlöschen vor ihrer Zeit. Ebenso die Frauen, früh verbraucht, nur selten glücklich. Und auch Martha erlischt, wird immer weniger, bis man sie an einem Morgen tot in ihrem Bett findet:

"So vieles hatte sie in ihrem Leben versäumt. Ließ sich so etwas je gut machen? Nur be­schränkt, sagte er sich. Es hatte zwischen ihnen kostbare Momente der Offenheit gegeben, die wollte er nicht vergessen."

Lukas Hartmann schreibt als Chronist, fast sachlich im Ton, ohne Anklage, ohne große politisch-gesellschaftliche Analyse: Der anrührende Bericht über eine Frau, die in ihrem Le­ben nichts als Arbeit kannte – für sie der einzige Weg in die Sicherheit, in die Freiheit. Schönheit? Kunst? Dafür hätte sie Muße gebraucht, einen Überfluss an Zeit, und die können sich erst ihre Enkel leisten. Martha aber musste vergessen, wovon sie als Kind noch geträumt hat:

"Ich würde Blumen malen in allen Farben,
wenn ich könnte,
am liebsten rote und gelbe, aber die Sonnenblumen
sind zu groß für ein umgedrehtes Kalenderblatt.
Und in der Nacht sehe ich nichts,
höre nur Geräusche."