Botho Strauß: Das Schattengetuschel
Hanser, 240 Seiten, 26 Euro.
Ja, Botho Strauß war einmal zeitgemäß. Wer etwas erfahren wollte über deutsche Gefühlszustände und Befindlichkeiten, über Paarbeziehungen und Einsamkeit, der musste die Bücher dieses 1944 geborenen Autors lesen, seine Theaterstücke sehen. Einige Titel von ihm sind geradezu sprichwörtlich geworden: Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle etwa, Paare Passanten oder Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war – so hieß das Langgedicht, das 1985 erschien und das damals gefühlt jede empfindsame Seele verschlungen hat.
Diese Zeiten sind lange vorbei und seit gut drei Jahrzehnten sieht sich Botho Strauß selbst lieber als "allzeit Unzeitgemäßer": als einer, der aus der Zeit gefallen ist, der nicht mit der Zeit gehen möchte und der schon gar nichts mit dem Zeitgeist zu tun haben will.
"Der allzeit Unzeitgemäße suchte noch einmal zur Größe seiner Vorbilder sich aufzurichten. Wie ein Blitz wollte er zwischen die Heute-Anbeter fahren, Schrecken verbreiten, die bittere Schelte über sie bringen. Wollte ihnen das Leid-Wesen wiederentdecken, sie zwingen aufzublicken statt scheel aufs Display."
Die Vorbilder, das sind Hölderlin, Nietzsche oder Kierkegaard, und des Teufels sind natürlich Smartphones, die Sozialen Medien und das, was der Unzeitgemäße "Gesinnungskitsch" nennt. Ja, es steckt jede Menge konservativer Kulturkritik in diesem Buch, und auch der hohe Ton, den Strauß fast durchgängig anschlägt, lässt oft eher ans 19. als ans 21. Jahrhundert denken. Allerdings wäre es ein Fehler, das "er" oder "man" dieser Aphorismen und Prosaminiaturen umstandslos mit der Person des Verfassers gleichzusetzen. Es sind vielmehr Rollen, die hier ausprobiert werden, erzählerische Versuchsanordnungen, die sich zu Mikrogeschichten oder kleinen Dramoletten fügen, aber doch immer im Ungefähren verbleiben. Schattengetuschel eben: nur schemenhaft sichtbar, nur bruchstückhaft vernehmbar. Der beschreibende Beobachter weiß: das große Ganze ist nicht mehr zu haben.
"Auf der subpersonalen Ebene, also in der Sphäre menschlicher Elementarteilchen wechseln unentwegt Anziehung und Abstoßung ihre Ladungen. Dort kann es keine story geben. Nichts strebt hier einem Ende zu oder verliefe folgerichtig (linear). Es wimmelt von zu vielen Möglichkeiten und Virtualitäten, als daß die Entscheidung für nur eine Geschichte Wahrscheinlichkeit mit sich brächte."
Die Geschichten, die vor allem im ersten, längsten Teil dieses Buches erzählt, oder besser vielleicht: anerzählt werden, bleiben deshalb zwangsläufig fragmentarisch. Einige wirken geradezu kafkaesk, etwa die vom Reisenden, der plötzlich seine Reisetasche samt Zahlungsmittel und Papieren vermisst und von der Zugbegleiterin ob dieses Fauxpas derb zurechtgewiesen wird. Oder die vom Schauspieler, der so verzweifelt wie vergeblich nach einem Kostüm sucht und dessen Auftritt dann gerade wegen der fehlenden Verkleidung besonders eindrucksvoll gerät. Es geht wie immer bei Botho Strauß um die Feinheiten der Beziehungen zwischen Mann und Frau, um meist misslingende Kommunikation und um die Verlorenheit des Ichs in dieser Welt. Wie groß die Beobachtungs- und Beschreibungskunst von Strauß immer noch ist, zeigt eine Miniatur wie die folgende:
"Die Finger des inzwischen erblindeten Mann, die über das Gesicht der wiedergefundenen Jugendliebe tasten, die ihre Züge strafft, die Augen schließt, die Lippen ein wenig aufwirft in der Hoffnung, seine Hände fänden etwas von ihrem Aussehen in jenen glücklichen Tagen wieder."
"Schattengetuschel" besteht aus drei Teilen: Teil 1 bietet jede Menge Miniaturen wie die eben zitierte, die oft nur einen Absatz, mintunter aber auch mehrere Seiten umfassen. Teil 2 präsentiert eine nicht minder fragmentarische Poetik und Weltverortung des unzeitgemäßen Dichters. Und Teil 3 zeigt Strauß als Meister des Aphorismus, der den Dichter als "Sätzemacher" und "Restlichtverstärker" adelt und zugleich ironisiert. Ja, dieses Buch wirkt in vielen Passagen spröde, manchmal gar hermetisch, aber Wohlfühlbücher hat Botho Strauß noch nie geschrieben. "Schattengetuschel" demonstriert einmal mehr den unbedingten Kunstwillen eines Schriftstellers, der vielleicht tatsächlich so etwas wie der letzte deutsche Romantiker ist.