Buchcover: "Georges Perec. Ein Leben in Wörtern" von David Bellos

"Georges Perec. Ein Leben in Wörtern" von David Bellos

Stand: 23.08.2023, 07:00 Uhr

Ein fast vergessener Schriftsteller, der zu den wichtigsten literarischen Erneuerern des 20. Jahrhunderts gehört: Georges Perec. Jetzt kann er durch eine fulminante Biographie neu entdeckt werden. Eine Rezension von Jutta Duhm-Heitzmann.

David Bellos: Georges Perec. Ein Leben in Wörtern
Aus dem Englischen von Sabine Schulze.
Diaphanes Verlag 2023.
704 Seiten, 45 Euro.

"Georges Perec. Ein Leben in Wörtern" von David Bellos

Lesestoff – neue Bücher 23.08.2023 05:31 Min. Verfügbar bis 22.08.2024 WDR Online Von Jutta Duhm-Heitzmann


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Das Leben in der Stadt

Der Traum eines Schriftstellers, der sich natürlich nie erfüllte:

"Wie gern würde ich mich auf meinen Landsitz zurückziehen, auf meinen Berg Athos."

Weg vom Trubel, einfach nur Schreiben können! Manchmal gelangen ihm kleine Fluchten in irgendeine Idylle, die er dann auch produktiv nutzte. Doch auf die Dauer wäre er dort erstickt.

Denn Georges Perec brauchte die Pariser Luft, die wilden Debatten, die unaufhörliche Reibung, die intellektuellen Kämpfe, das trotzig herausfordernde Leben der Bohème. Brauchte das Licht dort und die wüsten Nächte, in denen er sich mit seinen Freunden betrank. Freunde, die ein Ersatz waren für das, was er nicht mehr besaß: eine Familie. Perec war Jude, und er hätte sich gewünscht,

"im Land meiner Vorfahren geboren zu werden, in Lubartòw oder Warschau, und dort in der Kontinuität einer Tradition, einer Sprache, einer Zugehörigkeit aufzuwachsen."

Verlust der Eltern

Sein Biograph David Bellos beschreibt diesen Verlust als die lebenslang schwärende Wunde des Schriftstellers, verstärkt durch das Schicksal seiner Eltern: aus Polen emigrierte Juden, die sich Frankreich als ihrer neuen Heimat tief verpflichtet fühlten.

Der Vater starb als Soldat im Kampf gegen die Deutschen, seine Mutter wurde deportiert und im KZ Auschwitz umgebracht – die Quelle von Perecs berührendem Roman „W oder die Kindheitserinnerung“, geschrieben 1975, mit 40 Jahren.

"Das Schreiben ist die Erinnerung an ihren Tod und die Bejahung meines Lebens."

Experimentierfreudig und radikal

Ansonsten aber spielen seine Werke in einer ganz anderen Liga: Georges Perec war in der Mitte des 20. Jahrhunderts einer der experimentierfreudigsten, radikalsten Erneuerer der französischen Literatur und der literarischen Sprache.

Mehr noch: er nahm intensiv und leidenschaftlich an den künstlerischen und politischen Debatten teil, die die Gesellschaft der 60er-/70er-Jahre aufwühlten, die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen, die studentischen Unruhen um den Mai 1968, die ideologischen Scharmützel der verschiedenen linken Fraktionen, die Frage, was Literatur leisten kann und muss. Was verbindet literarische Sprache und Mathematik? Welche Formen tragen noch und was ge­hört auf den Müllhaufen der Tradition? Er selbst experimentierte gerne mit literarischen Col­lagen, um

"sich einzureihen in eine Abstammungslinie, die alle bisher geschriebene Literatur berücksichtigt. Man erweckt auf diese Weise sein ganz persönliches Museum zum Leben und re­aktiviert die eigenen literarischen Reserven."

Mehr als das empathische Nachverfolgen eines Dichterlebens

David Bellos folgt dem Schriftsteller auf seinem mäandernden Lebensweg, bei seiner langsamen, suchenden Entwicklung, den allmählichen Erfolgen und – oft genug – auch dem deprimierenden Scheitern, detailbesessen, klug, oft eigenwillig kommentierend, ein glänzender Stilist.

Doch seine Biographie ist noch mehr als das empathische Nachverfolgen eines Dichterlebens: Bellos malt ein Tableau der künstlerischen und politischen Auseinandersetzungen der Zeit und holt sie damit zurück, macht sie lebendig als eine Epoche kühnster Hoffnungen und radikalster Experimente. Was verändert sich durch die neuen Medien? Durch den Film? Das Radio?

Georges Perec war als Künstler Europäer, auch in Deutschland wesentlich beteiligt an der Entwicklung des "Neuen Hörspiels", Beispiel "Die Maschine".

"'Die Maschine' wurde zum Lehrbuchbeispiel in jeder Geschichte der akustischen Kunst in Europa und wird es auch bleiben. (…) Ein Stück, auf Deutsch von einem  Franzosen mit polnisch-hebräischen Namen geschrieben."

Perecs Romane wiederentdecken

Der quirlige, faunhafte kleine Mann mit dem strubbligen Lockenkopf und den blitzenden grünen Augen starb mit nur 46 Jahren, sein Werk ist mittlerweile fast vergessen. Vielleicht wird ja David Bellos Biographie "Georges Perec. Ein Leben in Wörtern" etwas daran ändern.

Auf jeden Fall aber könnte sie animieren, sich den einen oder anderen von Perecs jetzt wieder aufgelegten Romanen vorzunehmen – und damit einen leidenschaftlichen Verfechter des literarischen Experiments neu kennenzulernen.