"Singularitäten" von John Banville
Stand: 02.01.2024, 12:00 Uhr
In seinem neuesten Roman, "Singularitäten", bringt der irische Schriftsteller John Banville wie in einem Agatha-Christie-Plot Figuren aus seinen früheren Romanen zusammen. Im verfallenden Landhaus des verstorbenen Mathematikers Adam Godley geht es um die Entschlüsselung seiner Theorie vom Ende der Welt. Eine Rezension von Peter Meisenberg.
John Banville: Singularitäten
Aus dem Englischen von Christa Schuenke.
Kiepenheuer & Witsch, 2023.
432 Seiten, 26 Euro.
Felix Mordaunt hat sich in Schale geschmissen, in einen geliehenen schicken Sportwagen gesetzt und besucht nun den Landsitz Coolridge House, auf dem er groß geworden ist. Als wäre er wieder ein Junge wie damals schlägt er einen geheimen Nebenpfad durchs verwilderte Gelände, den sogenannten Ladys‘ Way, zum Haupthaus ein.
Auf dem Weg zieht wie im Traum seine ganze Jugend an ihm vorbei und gleichzeitig wird ihm bewusst, wie alt er jetzt ist.
"Der Grund dafür, denkt er auf einmal, dass ihm das so bekannt vorkommt, dieses Gefühl, dösend durch eine Welt zu treiben, die allmählich, ganz allmählich austrudelt, ist vielleicht ganz einfach der, dass es im Gefängnis auch so war. Konnte das sein? So einfach?"
Felix Mordaunt ist nämlich nicht Felix Mordaunt, sondern heißt eigentlich Freddi Montgomery und ist ein Raubmörder, der sein halbes Leben im Gefängnis verbracht hat. Nun kehrt er an die Stätte seines Verbrechens zurück; aber Coolridge House heißt jetzt Arden House und wird von der Familie des verstorbenen genialen und weltberühmten Mathematikers Adam Godley bewohnt.
Nichts ist in diesem Roman, wie es zu sein scheint, jede Gewissheit entpuppt sich als Illusion oder schlicht als Lüge, hinter jeder Identität verbirgt sich mindestens eine andere.
John Banville treibt in "Singularitäten" ein ebenso geschicktes wie hintersinniges Spiel mit seinen Figuren – und natürlich auch mit dem Leser: Nicht zufällig nennt sich der eine Ich-Erzähler einen "kleinen bösen Gott" und der andere Ich-Erzähler, ein alter, heruntergekommener früherer Kollege des berühmten Adam Godley, heißt "Jaybey".
Unverkennbar sind das die Initialen des eigentlichen Erzähl-Gottes, nämlich von John Banville selbst, der in Jaybeys Stimme seinen eigenen etwas eitlen und gespreizten Erzählstil persifliert. Jaybey ist vom Sohn des verstorbenen Adam Godley gerufen worden, um in Arden House die Biografie seines Vaters zu schreiben.
Dazu kommt er aber erstmal nicht, denn er verliebt sich auf der Stelle in Helen, die schöne Frau Godley juniors. Doch Helen ist mehr vom düsteren und gefährlich wirkenden Felix Mordaunt alias Freddi Montgomery angezogen, den sie im Nebenhaus aufsucht.
"Die Hintertür stand offen. 'Darf ich?' sagte sie und trat an ihm vorbei durch die Tür, wobei sie ihn am Ärmel streifte. Sie trug ein weißes Kleid aus leichtem Leinen, das sie glänzenden Schultern freiließ. Das Haar war offen, im Gegenlicht bildete es eine goldene Aureole um ihren Kopf. Ein leiser, müder Seufzer entschlüpfte ihm. Er war zwar schon seit langem nicht mehr in der Welt, doch trotzdem sah er sofort, wenn Ärger drohte."
Wieder einmal präsentiert sich John Banville als ein raffinierter, und auch – dank der grandiosen Übersetzung Christa Schuenkes – als ein betörender Erzähler, dessen Ton allein schon den Leser in den Bann schlägt. Umso faszinierender ist sein Erzählen in "Singularitäten", als dessen Protagonisten allesamt von einer melancholischen Aura der Vergeblichkeit umgeben sind und so wie Mordaunt "dösend" durch eine zum Untergehen verurteilte Welt treiben.
Dass die Welt dazu nicht nur verurteilt, sondern tatsächlich bereits dabei ist, "auszutrudeln", liegt daran, dass die große Theorie Adam Godleys "Über Singularitäten und die Aufspaltung der Weltlinien" sich zu bewahrheiten scheint.
"Dass sich jeder Zuwachs an Wissen über das Wesen der Realität unmittelbar auf diese auswirkt und jede erleuchtende neue Entdeckung, die wir machen, eine gleiche und entgegengesetzte Verdunklung mit sich bringt."
Auf die Verführung, aus dieser Prämisse einen endzeitlichen Science-Fiction-Roman zu entwickeln, lässt John Banville sich nur ein klein wenig, nur in winzigen Andeutungen, ein.
Was ihn viel mehr interessiert, ist, wie sich das Bewusstsein, dass unsere gewohnte Realität allmählich verschwindet, auf die Einzelnen auswirkt. Gar nicht, lautet sein Befund. Sie ahnen es zwar, wissen es sogar wie der Mörder Felix Mordaunt, doch traumwandlerisch machen sie weiter wie bisher. Bleibt ihnen etwas anderes übrig?