Buchcover: "Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort" von James Baldwin

"Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort" von James Baldwin

Stand: 31.07.2024, 07:00 Uhr

Ein erfolgreicher, schwarzer Theaterschauspieler, hat einen Herzinfarkt. Im Krankenhaus denkt er über sein Leben nach, erinnert sich an seine Kindheit in Harlem, seine Beziehungen, aber auch an Rassismuserfahrungen. Kraftvoll und eindringlich, hervorragend neu übersetzt. Eine Rezension von Theresa Hübner.

James Baldwin: Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort?
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow und Bettina Abarbanell.
dtv, 2024.
672 Seiten, 28 Euro.

"Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort" von James Baldwin

Lesestoff – neue Bücher 31.07.2024 05:25 Min. Verfügbar bis 31.07.2025 WDR Online Von Theresa Hübner


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Ein Herzinfarkt, auf der Theaterbühne, mit nicht mal 40 Jahren. Eben noch war Leo Proudhammer, der Erzähler in James Baldwins "Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort" noch auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Theaterschauspieler, jetzt liegt er im Krankenhaus. Schwach ist er, ausgelaugt  – gerade so dem Tod entkommen. Der Arzt, der Leo behandelt, macht ihm eine ganz klare Ansage:

"'Wenn sie nicht einen Gang runterschalten – weniger trinken, viel weniger rauchen und sich ihre Arbeitszeit so einteilen, dass sie zwischendurch die Möglichkeit haben, sich auszuruhen-, dann werden sie einen weiteren Infarkt bekommen und dann noch einen und irgendwann (…) wird es zu spät sein, und einer der Infarkte wird sie ins Jenseits befördern. Verstehen Sie mich?' 'Ja', sagte ich, 'ich verstehe Sie.'"

Es sind die 60er Jahre in den USA. Leo ist schwarz, bisexuell, in Harlem aufgewachsen und zum ersten Mal in seinem Leben, ist er zur Ruhe gezwungen, sein Körper hat ihm ein klares Warnsignal gegeben. Das bringt Leo dazu, zurückzuschauen auf sein Leben, den Menschen und Ereignissen, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist. Drei Personen haben ihn geprägt. Barbara, eine weiße Schauspielkollegin aus Kentucky, mit der er eine Beziehung hatte, die aber am Rassismus der 60er zerbricht; Black Christopher, Leos Liebhaber und politischer Aktivist, der auch mit Gewalt für Gleichberechtigung kämpft – und sein großer Bruder Caleb, den Leo innig liebt.

In Rückblicken, vom Krankenbett aus, erzählt Leo seine Geschichte, verknüpft mit denen von Caleb, Barbara und Christopher. Besonders fesselnd sind die Teile, in denen Leo sich an seine Kindheit und Jugend in Harlem erinnert.

"Unser Vater war entlassen worden, eben deshalb hatte man uns aus der Wohnung geworfen; jetzt fand er immer nur Gelegenheitsjobs, half ein, zwei Tage, Straßen in der Stadt aufzureißen oder Downtown den Schnee zu schippen. Caleb brach die Schule ab zu Dads größtem Ärger und Kummer. Unsere Mutter begann, als Dienstmädchen in der Bronx zu arbeiten."

Zwei Themen dominieren den Roman, und auf den ersten Blick wirken sie gegensätzlich. Zum einen ist es der institutionalisierte, grausame Rassismus der 50er und 60er Jahre in den USA. Baldwin zeigt, wie dieser seinen Vater bricht und später seinen Bruder, der unschuldig ins Gefängnis muss. Caleb erlebt im Gefängnis extreme Gewalt und Erniedrigungen, der sanfte, lebensfrohe junge Mann wird seelisch zerstört aus der Haft entlassen. Baldwin findet für die Schilderungen der rassistischen Willkür starke Worte und Bilder, die im Kopf bleiben – und oft schlägt Leos Verzweiflung in Hass um, denn er kann seinen von Weißen im Gefängnis erniedrigten Bruder nicht retten.

"In Caleb war jetzt etwas Einsames und Trauriges, Schrumpfendes, Aufgelöstes. Es brach mir das Herz. Er war zu schwer geschlagen worden. Ich hasste die Leute, die ihn geschlagen hatten, gerade mal vierzehn, war ich bereit, zu töten."

Gleichzeitig ist der Roman auch voller Liebe, und zwar in all ihren Formen. Anders als Baldwins größter Romanerfolg „Giovannis Zimmer“ ist dieses Buch jedoch nicht "queere Literatur". Dass der Hauptcharakter Leo bisexuell ist, ist nicht das dominierende Thema, sondern schwingt konstant mit. Es gibt viele großartige, intensive Sexszenen und dazu wunderschöne, gefühlvolle Sätze voller Emotionen, aber weit weg vom Kitsch.

"Ich ließ mich aufs Bett fallen und legte mich auf den Rücken, ein ängstlicher, schlechter Mensch, geduldig wartend, riesengroß und schwer und starr vor Liebe."

"Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort" ist ein Roman der großen Gefühle: Wut, Trauer, Leidenschaft, Spiritualität – und alle haben nebeneinander Platz. Baldwins Stil ist voller Rhythmus, die Sätze schwingen, und den Übersetzerinnen Miriam Mandelkow und Bettina Abarbanell gelingt es sehr gut, dies ins Deutsche zu transportieren.

Einige Passagen sind schlicht zu lang, da merkt man, dass James Baldwin vor allem ein Meister der kürzeren Form war. Die Teile zum Beispiel, in denen Leo vergeblich versucht als Schauspieler Fuß zu fassen, ufern aus, hätten mehr Fokus gebraucht. Dennoch ist dieser, der vierte Roman Baldwins, ein "typischer Baldwin", bewegend und kraftvoll, sprachgewaltig und thematisch – leider – genauso aktuell wie vor 50 Jahren.