Wie fast jeden Morgen besteigt Anna Lindh am 10. September 2003 zu Hause in Nyköping den Zug. Die Familie ist ihr wichtig, deshalb nimmt sie das regelmäßige Pendeln ins 100 Kilometer entfernte Stockholm in Kauf. Einem Fremden würde die kleine, blonde Frau gar nicht auffallen. Doch jeder Mitreisende im Zug kennt Anna Lindh. Die Sozialdemokratin ist Schwedens Außenministerin und aller Wahrscheinlichkeit nach die nächste Ministerpräsidentin des Landes.
Wie immer ist Anna Lindh ohne Leibwächter unterwegs, denn die Mutter zweier Söhne schätzt auch als Außenministerin ein "normales" Leben und Bürgernähe. Daran hält sie fest, obwohl Ministerpräsident Olof Palme ebenfalls ohne Begleitschutz war, als er 1986 nach einem Kinobesuch erschossen wurde. Das nie aufgeklärte Attentat hat eine tiefe, unverheilte Wunde im nationalen Selbstverständnis hinterlassen. Trotzdem würde es 17 Jahre danach niemand für möglich halten, dass ausgerechnet die angesehenste Politikerin Schwedens mitten in Stockholm Opfer eines Mörders wird.
Messerattacke an der Rolltreppe
Zur Zeit des Palme-Attentats sitzt die 1957 geborene Anna Lindh seit vier Jahren als jüngste Abgeordnete im Reichstag. Mit selbstsicherem, natürlichen Auftreten hatte sich die intelligente Juristin als Chefin der schwedischen Gewerkschaftsjugend einen Namen gemacht. 1994 übergibt Ministerpräsident Ingvar Carlsson der 36-jährigen Hoffnungsträgerin das Umweltressort. Vier Jahre später wird Anna Lindh Außenministerin der Regierung Göran Persson. Während der EU-Ratspräsidentschaft Schwedens 2001 erwirbt sich die Euro-Befürworterin durch kompetente und effektive Amtsführung auch international hohes Ansehen. In Schweden gilt als sicher, dass Lindh bald den blassen Regierungschef Persson ablöst und den Euro einführt.
Am Nachmittag jenes 10. September sucht Anna Lindh ohne jede Begleitung in einem Stockholmer Kaufhaus nach Kleidung. Kurz nach 16 Uhr sticht ein Unbekannter an einer Rolltreppe urplötzlich auf sie ein und flüchtet. Gegen 16.30 Uhr erfahren die entsetzten Schweden von dem Anschlag. Zunächst aber ist öffentlich nicht von schweren Wunden die Rede. Erleichtert sieht die Nation deshalb am Abend vor dem Fernseher, wie sich Schweden mit einem Sieg über Polen für die EM qualifiziert.
Fahndungspanne erinnert an Palme-Desaster
Doch im Karolinska-Krankenhaus kämpfen die Ärzte die ganze Nacht um Anna Lindhs Leben – vergeblich. Am 11. September, um 5.29 Uhr, erliegt sie den Stichverletzungen im Bauch- und Brustraum. Die unerwartete Todesmeldung, die Regierungschef Persson unter Tränen verkündet, versetzt Schweden in einen Schockzustand. Ganz Europa reagiert äußerst betroffen auf die Ermordung der Außenministerin. In Berlin unterbricht Bundestagspräsident Wolfgang Thierse die Haushaltdebatte, um den Abgeordneten die traurige Nachricht mitzuteilen. Drei Tage nach Anna Lindhs Tod lehnen 56 Prozent der Schweden in einem Referendum die Einführung des Euro ab.
Am 16. September verkündet die Polizei die Festnahme des mutmaßlichen Täters. Kurz darauf muss sie den 35-Jährigen aber wieder freilassen. Empört erinnern sich die Schweden an die desaströsen Fahndungspannen nach dem Palme-Mord. Die Bilder von Überwachungskameras führen dann am 24. September zur Verhaftung von Mijailo Mijailovic, einen 24-jährigen Schweden serbischer Abstammung. Erst Anfang Januar 2004 gesteht der sich als geistig verwirrt darstellende Mann die Tat, die er auf Befehl innerer Stimmen an dem ihm unbekannten Zufallsopfer begangen haben will. In drei Prozessen streiten Anklage und Verteidigung um seinen Geisteszustand. Als voll zurechnungsfähig wird Mijailo Mijailovic schließlich im Dezember 2004 wegen Mordes an Anna Lindh zu lebenslanger Haft verurteilt.
Stand: 19.06.2012
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