Kairo, 1. Oktober 1970: Rund fünf Millionen Menschen drängen sich in den Straßen der Stadt. Sie wollen Abschied nehmen von Gamal Abdel Nasser, dem ehemaligen Staatspräsidenten Ägyptens. Er starb am 28. September in seiner Kairoer Wohnung im Alter von 52 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts. Beim Trauerzug herrscht ein riesiges Gedränge. An einigen Stellen durchbricht die Menge die Absperrungen der Polizei. Die Trauernden sind außer sich, manche fallen vor Erschöpfung in Ohnmacht.
Auch in Libyen, im Irak, im Libanon und in Syrien wird getrauert. Nasser war mehr als Staatspräsident seines Landes. Für viele ist er ein Idol, weil er der Idee des Panarabismus folgte. Nach seinem Willen sollten sich die arabischen Länder zu einer Kulturnation vereinigen, um der europäischen Kolonialpolitik etwas entgegenzusetzen.
Diktatorischer Regierungsstil
Nassers Name bedeutet übersetzt "der schöne Knecht des Siegreichen". Der Sohn eines Postangestellten und Leutnant der ägyptischen Armee beginnt seine Karriere 1952. Zusammen mit den sogenannten Freien Offizieren setzt er König Faruk ab - den Herrscher, der angeblich über 600 Austern pro Woche isst und die Frauen, das Spiel sowie die Korruption liebt. Der Putsch unter Führung von General Ali Mohammed Nagib sorgt für großen Jubel, aber auch für Hass der Extremisten, die an der neuen Regierung nicht teilhaben dürfen.
Als Nasser im April 1954 Nagib ausbootet und alle wichtigen Staatsämter übernimmt, wird er zur Zielscheibe der oppositionellen Muslim-Brüder. Sie verüben im Oktober 1954 ein Attentat auf Nasser, der jedoch unversehrt bleibt. Zwei Jahre später wird er zum Präsidenten gewählt. Von da an regiert Nasser als Diktator, der sich volksnah gibt: Er beschneidet den Einfluss der Großgrundbesitzer, sorgt für die Landbevölkerung und für eine kostenlose medizinische Versorgung. Gleichzeitig setzt er auf die Industrialisierung des Landes und lässt den Assuan-Staudamm bauen. Seine Herrschaft sichert er durch einen starken Militärapparat und eine gut funktionierende Geheimpolizei ab.
Suezkrise ausgelöst
Als er 1956 den Suezkanal verstaatlicht, ist Nasser auf dem Höhepunkt seiner Macht. Bis dahin haben den wirtschaftlich bedeutenden Wasserweg Briten und Franzosen mehrheitlich unter Kontrolle. Für die Ägypter ist das ein Befreiungsschlag gegen koloniale Bevormundung. Allerdings löst Nasser damit auch die Suezkrise aus: Die israelische Armee rückt durch den Sinai bis zum Kanal vor, britische und französische Truppen besetzen die Kanalzone. Unter internationalem Druck wird der Konflikt allerdings rasch beigelegt.
1967 verliert Ägypten vorübergehend die Kontrolle über den Suezkanal: Im Sechs-Tage-Krieg rückt Israel wieder bis zum Ostufer vor. Auf seine Niederlage reagiert Nasser innenpolitisch mit seinem Rücktritt von allen Ämtern. Kurz darauf berichtet ein Reporter: "120 Minuten später kehrt Nasser, von den Volksmassen ermutigt, als Ministerpräsident zurück." Er bleibt bis zu seinem Tod Regierungschef und populär - obwohl Ägyptens Wirtschaft zu diesem Zeitpunkt schlecht dasteht, sein Plan des Panarabismus nicht verwirklicht und eine kurze Allianz mit Syrien zerbrochen ist. "Seine Stimme hatte etwas von religiöser Hingabe", schreibt die irakische Schriftstellerin Alija Mamduh später. "Jedes seiner Worte fand Widerhall bei uns. Wir waren alle Nasseristen." Seine Faszination reicht bis in den Arabischen Frühling: Bei den Demonstrationen, die 2010 beginnen, taucht das Bild von Nasser auf Plakaten und Transparenten auf.
Stand: 28.09.2015
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