Eigentlich hatte sie nie den Plan im Leistungssport aktiv zu sein. Eher durch Zufall durch einen Instagram-Post über eine Sportveranstaltung des TSV Bayer 04 Leverkusen wurde Jule Roß vor zwei Jahren auf den Para Sport aufmerksam - und meldete sich zu einem Probetraining bei den Leverkusener Para-Leichtathleten an.
Schon mit sieben Jahren hatte sich die Athletin aus Bergisch Gladbach, der von Geburt an der rechte Unterarm fehlt, in der Leichtathletik versucht, sie wechselte jedoch nach einigen Jahren zum Tennis.
"Besonders im Schulsport habe ich aber nach und nach gemerkt, wie sehr ich die Leichtathletik vermisst habe", sagt Roß rückblickend – und startete den zweiten Anlauf, diesmal im Para-Sport. Die Trainingsstätte der Leverkusener Leichtathleten ist nur wenige Kilometer von ihrem Heimatort entfernt.
Bereits nach der ersten Probeeinheit wusste Roß, dass die Para-Leichtathletik ihre neue Leidenschaft wird. "Ich wurde mit offenen Armen empfangen und habe mich sofort wohlgefühlt", erinnert sich die Abiturientin, die mittlerweile über 100, 200 und 400 Meter und im Weitsprung an den Start geht.
"Die beste Entscheidung meines Lebens"
Heute bezeichnet sie diesen Schritt als die beste Entscheidung ihres Lebens. "Zuvor hatte ich nie Kontakt mit anderen Menschen mit Behinderungen. Ich dachte immer, ich bin die Einzige und hatte teilweise dieses "Warum ich?"-Gefühl. In Leverkusen habe ich Freunde gefunden, die teilweise das gleiche haben wie ich", so Roß. Der Para-Sport habe sie selbstbewusster gemacht.
Die Zeit in Leverkusen und der Kontakt zu Gleichgesinnten helfen ihr sehr, mit ihrer eigenen Behinderung umzugehen. Anfangs trainierte sie in einer Breitensportgruppe, inzwischen zusammen mit anderen Leverkusener Spitzensportlern wie Paralympics-Sieger Johannes Floors. Als junge Athletin profitiert sie dabei vom engen Austausch und den Tipps der erfahrenen Athleten.
Der erste internationale Einsatz auf Top-Niveau kam für die damals 17-Jährige überraschend. "Etwa sechs Wochen vor der WM in Paris im vergangenen Jahr habe ich erfahren, dass ich mitfahren darf. Da war dann nicht mehr viel mit Vorbereitung", blickt Roß zurück. Bei der Weltmeisterschaft sammelte sie nicht nur Erfahrungen, sondern verbesserte auch ihre persönlichen Bestleistungen.
Bei der Para-Leichtathletik-WM in Japan im Mai übertraf die Abiturientin dann ihre eigenen Erwartungen. Über 400 Meter blieb Jule Roß in ihrem erst vierten Rennen über diese Distanz nicht nur deutlich unter 60 Sekunden, sondern knackte auch den 35 Jahre alten deutschen Rekord von Petra Quade, der seit den Paralympics 1988 in Seoul Bestand hatte.
Von der Bundestrainerin "geadelt"
Platz vier bei den Weltmeisterschaften, die Paralympics-Norm abgehakt und ein großes Lob von Bundestrainerin Marion Peters, die sie als "Entdeckung der WM" bezeichnete – viel mehr geht nicht.
"Wenn man so etwas liest, ist es natürlich schön und auch eine Wertschätzung für junge Athleten wie mich", sagt Roß und fügt an: "Ich wurde eigentlich nur mitgenommen, um etwas zu lernen – die WM-Norm hatte ich nicht. Wenn man dann so gute Leistungen abrufen kann, zeigt das, dass sich die Mitnahme gelohnt hat. Das ist ein tolles Gefühl!"
Für die 18-Jährige war die Stimmung durch die vielen Zuschauer im Stadion in Kobe eine neue Erfahrung. Während die vollen Ränge Roß in ihren Sprintdisziplinen pushen, mag sie es beim Weitsprung eher ruhiger, um sich zu konzentrieren. "Da bin ich nicht der Typ, der zum Klatschen animiert, was ja viele mögen", berichtet sie.
Paralympics-Premiere für Roß
Bei den Paralympics in Paris wird Jule Roß zwar in vier Disziplinen antreten, der Fokus liegt aber klar auf ihrer Paradestrecke, den 400 Metern. "Das ist meine beste Disziplin und ich habe dabei die höchsten Chancen, möglichst weit zu kommen. Alles andere ist zum Lernen“, sagt die junge Para-Leichtathletin.
Schon am zweiten Wettkampftag (30.08.2024) ist es so weit: Um 19 Uhr läuft Jule Roß im Stade de France auf und beginnt ihre Paralympics-Karriere in ihrer Paradedisziplin.
Jule Roß mit ihrer Trainerin Kira Biesenbach
"Ich möchte vor allem Spaß haben, jeden Moment genießen und alles aufsaugen, was geht", so die angehende Lehramtsstudentin der Fächer Geografie und Sozialwissenschaften, und ergänzt: "Mein Traum wäre natürlich, dass ich es in ein paralympisches Finale schaffe."
Druck macht sich die von Ex-Siebenkämpferin Kira Biesenbach trainierte Athletin bei ihrer Premiere aber keinen: "Ich habe noch so viele Jahre vor mir. Aktuell sehe ich alles, was passiert, als absoluten Gewinn."
Quelle: af/dbs