In den Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsens in Dresden lagern im Jahr 2015 in einem Depot fast 6.000 Leichen. Und nicht nur dort befinden sich menschliche Überreste. Bundesweit lagern sie in Universitäten, Zoologischen Sammlungen, in Kunsthochschulen und Museen. Die meisten gelangen hierher in der Zeit, als das Deutsche Reich seinen vom Kaiser verlangten „Platz an der Sonne“ sucht – vor allem in Afrika werden Schädel und Gebeine in der Zeit des Kolonialismus gestohlen.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert bringen Kolonialisten und Knochenjäger aus Kamerun, Deutsch Südwest-Afrika - Namibia also - und vielen weiteren Ländern Schädel und Skelette sogenannter „Eingeborener“ mit. Als Trophäen. Als Forschungsobjekte, um die Überlegenheit der weißen Rasse nachzuweisen.
Wer angehalten wird, Überreste mitzunehmen
"Es wurden auch zu der Zeit sämtliche Beamte, Matrosen, Forschungsreisende angehalten, eben die Bestände hierzulande zu mehren und menschliche Überreste mitzunehmen", sagt die Ethnologin Isabelle Reimann von der Berliner Humboldt-Universität. Sie hat in einer Studie allein in den Museen der Bundeshauptstadt knapp 6.000 menschliche Überreste dokumentiert.
Schädel in Vitrinen anlässlich der Rückgabe von Totenschädel und Gebeinen (auf diesem Foto von Herero und Nama)
In sogenannten „rassenanthropologischen Sammlungen“ werden Schädel nummeriert, beschriftet und vermessen, Skelette zerlegt, Hirnvolumina berechnet, Geschlechtsorgane seziert. Alles im Dienst einer Rassenlehre, die die Weißen zur „Krönung der Schöpfung“ erhebt. Dafür müssen nicht nur Körper aus Afrika herhalten, sondern auch aus Ländern, die das Deutsche Reich nicht kolonisiert: Australien, Neuseeland – oder Hawaii.
Edward Halealoha Ayau vom Büro für die Staatsangelegenheiten Hawaiis beschreibt die schmerzhafte Erfahrung: "Auf Hawaii erkennen wir an, dass wir eins sind mit unseren Vorfahren. Wenn sie gestört werden, werden auch wir gestört."
Ayau und sein Team kämpfen seit Jahrzehnten in Europa um die Rückgabe ihrer Vorfahren, der „Iwi Kupuna“, die Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts meist aus Begräbnishöhlen geraubt worden sind. Schon damals widerspricht das den Gesetzen, die die ewige Ruhe garantieren sollen. Von vielen Knochen weiß die Gruppe um Ayau, wohin sie gebracht wurden. 1991 schickt sie den Ethnographischen Sammlungen Sachsens in Dresden den ersten Brief.
Rückgabe erst nach vielen Briefen aus Hawaii
Snoep: "Und eigentlich jedes Jahr haben sie eine Anfrage gemacht, eine schriftliche Anfrage und manchmal gab es eine Antwort, die war dann ein Nein. Und manchmal gab es keine Antwort." Die damalige Direktorin Nanette Snoep entscheidet sich schließlich für die Rückgabe.
Am 23. Oktober 2017 werden Schädel- und Kieferknochen von vier Hawaiianern im Völkerkundemuseum in Dresden an Nachfahren zurückgegeben. Auch eine Entschuldigung für den Raub vor mehr als 120 Jahren wird ausgesprochen. Die Zeremonie in Dresden befördert ein Umdenken, was das sogenannte „Sammlungsgut aus kolonialem Kontext“ betrifft. Es gibt eine Beschleunigung der Verfahren und mehr Transparenz - sowie ein Eingeständnis von Schuld.
Leipzig 2019: Major Sumner, Vertreter der australischen Ngarrindejeri Community, führt anlässlich der Übergabe von Gebeinen australischer Ureinwohner ein Prozession im Grassi Museum an
So werden 2018 in Berlin - erstmals im Namen der Bundesregierung - Gebeine an die Herero und Nama zurückgegeben. Jene Völker in Namibia, die die deutschen Kolonialherren nahezu ausgerottet haben - heute als Genozid eingestanden. Weitere Rückgaben folgen - oder sind noch geplant.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Edda Dammmüller
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 23. Oktober 2022 an die Rückgabe entwedeter Gebeine durch das Völkerkundemuseum Dresden an Hawaii. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
ZeitZeichen am 24.10.2022: Vor 5 Jahren: Todestag des amerikanischen Musikers Fats Domino.