Polens Hauptstadt gilt jahrhundertelang als "Jerusalem des Ostens". Vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen leben rund 360.000 Juden in Warschau. Das sind etwa 30 Prozent der Einwohner der Stadt. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges erteilen die deutschen Truppen im Herbst 1940 den Befehl zur Errichtung eines Ghettos.
Im Stadtbezirk der ärmsten jüdischen Bevölkerung müssen ab dem 16. November 1940 Juden aus ganz Polen leben. Bis zu einer halben Million Menschen werden auf engstem Raum zusammengepfercht. In jedem Zimmer hausen sechs bis sieben Personen. Das Ghetto wird mit einer 18 Kilometer langen Mauer eingeschlossen. Mit dem Stacheldraht-Aufsatz ist sie etwa vier Meter hoch.
Zwangsarbeit, Epidemien, Hunger
Bezahlen muss die Mauer der "Judenrat" - eine von der SS eingesetzte Zwangsorganisation, die das Ghetto verwalten soll. Die Mitglieder des Gremiums sind Opfer, die den Tätern zuarbeiten müssen. Zu ihnen gehört auch der spätere Schriftsteller und Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki: "Ich arbeitete für den Judenrat, weil ich gut Deutsch konnte."
Im Ghetto herrschen katastrophale Lebensbedingungen, Epidemien und Hunger. Den Menschen stehen pro Kopf nur 200 Kalorien am Tag zu. Die Ghetto-Bewohnerin Rachela Auerbach beschreibt in ihrem Tagebuch die Zustände:
Trotzdem müssen die geschwächten Ghetto-Insassen Zwangsarbeit leisten. Verschiedene Firmen lassen hier produzieren, auch die deutsche Rüstungsindustrie. Von der Sklavenarbeit profitiert die SS ebenfalls. Sie betreibt die meisten Lager und Vernichtungsorte in Mittel- und Osteuropa.
Deportationen nach Treblinka
1942 befiehlt der SS-Reichsführer Heinrich Himmler die sogenannte Umsiedlung der Ghetto-Bevölkerung. Im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage" werden ab Juli tausende Juden aus dem Warschauer Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka deportiert.
"Es hat sich dann relativ schnell herum gesprochen, dass die Transporte nach Treblinka gehen", erinnert sich Reich-Ranicki. Ihm gelingt mit seiner Frau Tosia die Flucht aus einer Kolonne, die zur Deportation geführt wird. Sie entkommen aus dem Ghetto.
"In Würde sterben"
Als im Sommer 1942 täglich Transporte mit 5.000 bis 6.000 jüdischen Kindern, Frauen und Männern abgefertigt werden, entschließt sich eine kleine Gruppe zum Widerstand. Darunter ist auch die damals 19 Jahre alte Mascha Putermilch. Sie sagt später:
Sie mischen Molotowcocktails und beschaffen sich außerhalb des Ghettos einige Pistolen, ein paar Gewehre und ein Maschinengewehr. Zudem graben sie Tunnel und bauen Bunker. Es entsteht nahezu eine unterirdische Stadt.
SS, Wehrmacht und Polizei
Ende 1942 befinden sich nur noch ungefähr 60.000 Menschen im Ghetto. Als am 18. Januar 1943 weitere Deportationen durchgeführt werden sollen, gehen die Widerstandskämpfer dagegen vor. Die überraschte SS bricht daraufhin die Aktion ab.
Am 19. April 1943 versuchen die deutschen Truppen mit 850 Mann in das Ghetto einzumarschieren. Dabei sind SS, Wehrmachtssoldaten sowie Polizisten aus deutsch besetzten Gebieten wie zum Beispiel der Ukraine und Litauen. Das ist der Beginn des Warschauer Aufstandes: Die Eindringlinge werden beschossen.
Häuser werden zerstört
Mascha Putermilch kämpft mit dem Revolver in der ersten Reihe: "Als die Deutschen herangekommen sind, standen wir im ersten Stock. Zehn Kämpfer an fünf Fenstern. Wir haben Zündflaschen geworfen." Bei den Deutschen gibt es einzelne Tote und viele Verletzte.
SS-General Jürgen Stroop, der zuvor bereits das Ghetto in Lemberg, dem heutigen Lwiw in der Ukraine, räumen und die Bewohner erschießen ließ, will auch hier kurzen Prozess machen. Doch anders als von ihm erwartet, ziehen sich die Kämpfe hin. Die Häuser, in denen die deutschen Besatzer Widerstandskämpfer vermuten, brennen sie eines nach dem anderen ab.
Fast vier Wochen Gegenwehr
Dennoch kämpfen etwa 750 Aufständische gegen zuletzt rund 2.000 Soldaten und SS-Männer. Bis ihnen die Munition ausgeht. Wenige Kämpfer können sich retten: Anführer Marek Edelmann flieht und wird nach dem Krieg zur Stimme der Überlebenden. Masha Putermilch überlebt mit einigen Gefährten in der Kanalisation und schließt sich polnischen Partisanen an.
Nach fast vier Wochen ist der Aufstand niedergeschlagen. Die rund 43.000 verbliebenen Bewohner werden in Vernichtungslager deportiert. Der deutsche Befehlshaber Stroop setzt am 16. Mai 1943 ein letztes Zeichen: Er sprengt außerhalb des Ghettos die große Synagoge. In seiner Tagesmeldung steht: "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!"
Autorin des Hörfunkbeitrags: Irene Dänzer-Vanotti
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 16. Mai 2023 an die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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