Hörbuchcover: "Sibir" von Sabrina Janesch

Hörbuch der Woche

"Sibir" von Sabrina Janesch

Stand: 05.05.2023, 10:44 Uhr

Sabrina Janesch beschert uns mit "Sibir" ein fesselndes Hörbuch, in dem sie eindrucksvoll zeigt, wie fragil Begriffe wie Heimat, Identität und Zugehörigkeit sein können. Denn Einheimische sind die Fremden von gestern – und umgekehrt.

Anders sein. Nicht recht dazu gehören. Begleiterscheinungen der Kindheit von Protagonistin und Ich-Erzählerin Leila Ambacher Ende der 1980er Jahre. Ihre Familie von Aussiedlern bringt einen Hauch weiter Welt in die provinzielle Enge des fiktiven Mühlheide in Niedersachsen. Und das, obwohl die kleine Gemeinschaft einstiger Galiziendeutscher, von Hitler zunächst ins Wartheland gebracht, dann von Stalin nach Kasachstan, nun schon seit Jahrzehnten ortsansässig ist.

Sabrina Janesch zeichnet in "Sibir" ein zugewandtes Bild der am Dorfrand angesiedelten Community, ihres Zusammenhaltes, Anpassungsvermögens und ihrer Erdverbundenheit. Leila hat eine enge Bindung zu ihrem Vater Josef. Ein stattlicher, freier und zuverlässiger Mann, und doch - gezeichnet von Verlust und Unrast - bisweilen unberechenbar. Zum Missfallen von Leilas temperamentvoller Mutter Agnieszka.

Neben Episoden aus Leilas Kindheit erzählt Autorin Sabrina Janesch auch aus Vater Josefs Kindesjahren im heutigen Kasachstan, von ihm einst Sibirien genannt. "Sibir" ist so auch das Porträt eines Menschen, in dem sich das 20. Jahrhunderts in seinen Dramen und Widersprüchen spiegelt und bricht.

Zwischen 1945 und 1955 müssen die Ambachers verbannt in der kasachischen Steppe leben. Zwar überzeugen sie mit ihrer Tatkraft, aber Sowjetdiktatur, Vorurteile und Wetterextreme setzen ihnen schwer zu.

Josefs Bruder stirbt, die Mutter verschwindet spurlos. Janesch gelingen griffige Milieuschraffuren, die auf Schwarz-weiß verzichten und in spannende und bewegende Szenen münden. Die organischen Wechsel zwischen Josef und Leila, zwischen Steppe und Heide laden zum Ziehen von Parallelen ein, drängen sich aber nicht auf.

Auch dank Schauspielerin Julia Nachtmann, die in "Sibir" als Sprecherin begeistert. Mit diesem grandiosen Hörbuch gelingen ihr eindringliche Aufnahmen. Ihre ernste, klare Stimme passt perfekt zu der präzisen Sprache und der geheimnisvollen, leicht melancholischen Musikalität von Janeschs Text. Nachtmann glänzt hier facettenreich mit tadellosem Timing und tollem Timbre.

Nach dem Fall der Mauer strömen neue Spätaussiedler gen Mülheide. Das Haus Ambacher wird zur Anlaufstelle jener neuangekommenen Russlanddeutschen. Leila und Kumpel Arnold sowie Neuankömmling Pascha werden bald unzertrennlich. Bis ihre Freundschaft durch den düsteren Forellenzüchter Tartter auf eine harte Probe gestellt wird. Vater Josef indes wird von seiner Vergangenheit eingeholt, mit weitreichenden Folgen.

Für ihr Werk "Sibir" hat Sabrina Janesch keine Mühen gescheut und viel Arbeit auf sich genommen, hat recherchiert, Dokumente und Briefe durchforstet, Zeitzeugen interviewt und ist sogar nach Kasachstan gereist. Es hat sich gelohnt.

Eine Rezension von Moritz Holler

Hörbuchangaben:
Sabrina Janesch: Sibir
Gelesen von Julia Nachtmann
Argon Hörbuch, 2023,
1 mp3-CD, 10h 19min Laufzeit, 20,95 Euro

Buchvorlage erschienen im Rowohlt Verlag, 352 Seiten, 24 Euro