Hörbuchcover: "Das Pferd im Brunnen" von Valery Tscheplanowa

Hörbuch der Woche

"Das Pferd im Brunnen" von Valery Tscheplanowa

Stand: 18.08.2023, 12:07 Uhr

Valery Tscheplanowa kehrt zurück zu ihren russischen Wurzeln. Ideen- und wortreiche Hommage an die starken, selbstständigen Frauen der Familie. Die Autorin begeistert mit einer sagenhaften Sprach-Performance ihres eindrucksvollen Debütromans.

Erzählerin Walja zieht es nach dem Tod der Großmutter in die einstige Heimat, in ein Dorf nahe Kasan an der Wolga. Dies ist der Auftakt einer Annäherung und Zeitreise, die Walja gedanklich bis zu Urgroßmutter Tanja trägt. Mitten hinein in deren karges aber gleichmütiges Leben. Momentaufnahmen aus vergangenen Jahrzehnten – so packend erzählt, als passierte es just in diesem Moment.

Tscheplanowas Beschreibungen sind aussagekräftig, plastisch, nie plakativ oder sentimental. Reduziert im Umfang, verschwenderisch im Anekdotenreichtum. Die sprunghafte Erzähltechnik ist so dynamisch wie die menschliche Erinnerung selbst. Nicht jeder Zusammenhang wird auf dem Silbertablett serviert, nicht jede Bildecke ausgemalt. Dank dieses Schwebezustandes rutscht "Das Pferd im Brunnen" nie ins Profane ab.

Ja es ist Alltag, doch ist er hier in seiner existentiellen Wucht erfasst. Der Alltag dreier Frauen: von Urgroßmutter Tanja, Großmutter Nina und Mutter Lena. 1988 wandert diese nach Deutschland aus und strandet in der schleswig-holsteinischen Provinz. Der Westen, für sie ein nie ganz eingelöstes Versprechen zwischen Supermarkt, Sackgasse und Schulterzucken.

Die Schauspielerin Valery Tscheplanowa vertont ihr eigenes Werk. Und das hat sich gelohnt. Selten beschwört ein Hörbuch das geschriebene Wort mit einer solchen Kraft herauf. Ihren kunstvollen Text weiß sie mit all dem Wissen der Autorin um dessen unsichtbare Statik einzusprechen. Welch magische Atmosphäre dabei entsteht! Tscheplanowa vereint zwei Talente in einer Person.

Anschaulich wird etwa auch vom Zerbröckeln der UDSSR erzählt. So gehört, hilft "Das Pferd im Brunnen" auch, das Russlandbild der frühen Neunziger Jahre zu ergänzen. Großmutter Nina ist eine faszinierende Figur. Emsig, resolut, stolz. Eine Macherin, immer in Bewegung. Ein Leben voller Arbeit.

Eine feine Melancholie umrahmt Tscheplanowas Schnappschüsse wie ein hauchdünner Blattgoldrahmen. Sie zeigt uns auch, wie flüchtig Glück ist. Meist sind es die unbeschwerten, banalen Alltagsmomente, welche später als die schönsten begriffen werden.

Am Ende verspürt Erzählerin Walja eine tiefe Verbundenheit zur Großmutter. Der Kreis schließt sich. Nichts hält der Zeit stand, doch manche Werke tuen ihr Bestes, um Vergangenes zu bewahren. Valery Tscheplanowa ist dies mit „Das Pferd im Brunnen“ phänomenal gelungen.

Eine Rezension von Moritz Holler

Literaturangaben:
Valery Tscheplanowa: Das Pferd im Brunnen
Argon Hörbuch, 2023.
1 CD, 4h und 42min Laufezeit, 22 Euro