Buchcover: "Ein tugendhafter Mann" von Anita Brookner

Buch der Woche

"Ein tugendhafter Mann" von Anita Brookner

Stand: 21.11.2024, 16:56 Uhr

Von wegen Swinging Sixties: Protagonist Lewis Perry verbringt im London der 1960er ein Leben gefangen in Verpflichtungen und Konventionen. Anita Brookners stilistisch brillanter Roman mit Bezug auf Flauberts "Lehrjahre des Gefühls".

Die englische Schriftstellerin Anita Brookner begann erst in ihren Fünfzigern literarisch zu schreiben. Das aber sofort auf höchstem Niveau. Gleich mit dem vierten Roman "Hotel du Lac" gewann sie 1984 den Booker Prize. Ihr Freund und Schriftstellerkollege Julian Barnes schrieb einmal, er bezweifele, dass Brookner ihre Manuskripte jemals habe überarbeiten müsse. Sie schrieb so gestochen und perfekt, wie sie sprach. Geschliffene, elegante Sätze, originelle Beobachtungen und treffende Bilder zeichnen Brookners Stil aus.

Das trifft auch auf "Ein tugendhafter Mann" zu. Wie Flauberts Bildungsroman "Lehrjahre des Gefühls" beginnt Brookners Version in Paris, der Sehnsuchtsort des Brooknerschen Personals. Der junge Engländer Lewis Perry ist in einer Frauen-WG untergekommen. Die gemeinsamen Salonabende mit Camembert und Schinkenhäppchen stehen für ihn für Weltläufigkeit. Frauen betrachtet er als "segensreiche Einrichtung". Lewis träumt von einem raffinierten Leben, gern auch mit Geliebter, so wie jenes der Helden in den großen französischen Romanen des 19. Jahrhunderts, die Lewis tagsüber studiert.

Dann aber kehrt er nach London zurück, nimmt einen Bibliotheksjob an. Nach dem Tod der Mutter heiratet er die langweilige und unscheinbare Tissy. Vom Leben der Helden seiner Lieblingsromane ist Lewis weit entfernt. Auch die lebenshungrige Schauspielerin Emmy lässt er vor lauter Tugendhaftigkeit nicht wirklich an sich heran. Dabei spielt der Roman in den 1960er und 1970er Jahren. Im Hintergrund findet eine gesellschaftliche Revolution statt.

Normalerweise finden Helden in Bildungsromanen zu angemessener Zeit die Frau ihres Lebens. Lewis vergeigt es und ist sich dessen auch noch bewusst. Er wünscht sich bald, seine „Lehrjahre des Gefühls“ in Anspielung auf Flaubert noch einmal beginnen zu dürfen. Wie auch schon für die Heldin Ruth Weiss in Brookners Debütroman "A Start in Life" scheinen Gelehrsamkeit und Literatur keine guten Ratgeber zu sein.

Mit "Ein tugendhafter Roman" knüpft Brookner im Jahr 1989 an die Tradition des männlichen Bildungsromans an. Und das zu einer Zeit, als Doris Lessings feministischer Klassiker "Das Goldene Notizbuch" schon fast dreißig Jahre alt war. Vieles wirkt hier verspätet und altmodisch. Die psychischen Dynamiken, die offengelegt werden, wie z.B. Tissys Sozialphobie oder Lewis‘ symbiotische Verstrickungen mit der Mutter haben nichts an Aktualität verloren. Und Lewis bekommt am Ende doch noch die Chance, zum handlungsfähigen Helden des eigenen Lebens zu werden. Natürlich dank einer Frau.

Eine Rezension von Mareike Ilsemann

Literaturangaben:
Anita Brookner: Ein tugendhafter Mann
Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Mit einem Nachwort von Volker Weidermann
Eisele, 400 Seiten, 24 Euro.