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Toni Morrison.

Übersetzerin im Gespräch

Tanja Handels über "Sehr blaue Augen" von Toni Morrison

Stand: 06.10.2023, 15:53 Uhr

Toni Morrisons Debütroman erscheint in einer zeitgemäßen Übersetzung von Tanja Handels. "Sehr blaue Augen" ist ein kunstvolles und zutiefst erschütterndes Werk von ungebrochener Aktualität.

Vor dreißig Jahren erhielt Toni Morrison als erste afro-amerikanische Autorin den Nobelpreis für Literatur. Die Jury nannte damals ihre "visionäre und poetische Kraft" in der Schilderung "eines essenziellen Teils der amerikanischen Realität" als Grund für die Auszeichnung.

Diese Kraft lässt sich bereits in ihrem 1970 erstmals erschienenen ersten Roman finden. Die titelgebenden "sehr blauen Augen" sind der größte Wunsch des schwarzen Mädchens Pecola, das sich Anfang der Vierziger-Jahre einen Ausbruch aus seinem zutiefst deprimierenden Leben erhofft: Die Eltern sind gefühlskalt und brutal und prügeln nicht nur die Kinder, sondern sich auch untereinander.

In der Schule ist sie – aufgrund ihrer sehr dunklen Hautfarbe – ein beliebtes Spottobjekt, über dessen Gefühle kaum jemand nachdenkt. Nur die beiden Schwestern Claudia und Frieda kümmern sich um Pecola. Claudia, in vielen Passagen auch Ich-Erzählerin, ist eine Art widerständige Gegenfigur zu ihrer unglücklichen Freundin:

Sie lehnt ihre weiße Babypuppe ab und fragt sich ganz offen: Wer hat bestimmt, dass weiß gleichbedeutend mit schön ist und schwarz offenbar das Synonym für hässlich ist?

Toni Morrison führt an Pecola tragischer Geschichte – und etlicher anderer Figuren – eine erschütternde Tatsache vor Augen: Die jahrhundertelange Erfahrung von Rassismus hat bei vielen Schwarzen Menschen dazu geführt, dass sie rassistische Vorstellungen internalisiert und sich sogar zu eigen gemacht haben. Das Ergebnis ist ein Schwarzer Selbsthass, der wie am Fließband unglückliche Schicksale produziert.

Da die Menschen sich den eigentlich Verantwortlichen – der weißen Mehrheitsgesellschaft oder ganz konkreten weißen Peinigern – nichts entgegensetzen können, richtet sich ihr ganzer Zorn auf sich selbst. Oder andere Schwarze Menschen, denen es noch ein wenig schlechter geht.

Und auch, wenn der Roman vor über 80 Jahren spielt und seitdem die Bewegungen wie "Black Power" und "Black Lives Matter" viel für die Selbstermächtigung von People of Colour getan haben – man kommt nicht umhin, die Entwicklungslinien bis in die Gegenwart zu sehen.

"Sehr blaue Augen" ist auch sprachlich ein Meisterwerk. Virtuos mischt die Autorin Schwarzen Slang und hochpoetische Sprache und konstruiert die Geschichte auf eine Art, dass man seine eigenen Einschätzungen immer wieder hinterfragen muss.

Toni Morrison war lebenslang auf der Suche nach der passenden Sprache für die Schwarze Erfahrung in den USA – ihr lesend bei dieser Suche zu folgen ist eine aufrüttelnde Erfahrung.

Eine Rezension von Lina Brünig

Tanja Handels über "Sehr blaue Augen" von Toni Morrison

WDR 5 Bücher - Autoren im Gespräch 07.10.2023 12:25 Min. Verfügbar bis 05.10.2024 WDR 5


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Literaturangaben:
Toni Morrison: Sehr blaue Augen
Übersetzt von Tanja Handels
Rowohlt, 2023
272 Seiten, 24 Euro