Buchcover: "Gedicht für den unvollkommenen Menschen" von Agi Mishol

Aktuelle Lyrik

"Gedicht für den unvollkommenen Menschen" von Agi Mishol

Stand: 02.08.2024, 12:29 Uhr

Agi Mishol zählt zu den profiliertesten Dichterinnen Israels. Sie wurde 1946 im heutigen Rumänien geboren, wanderte dann mit den Eltern nach Israel aus. Ihre Schwester wurde im Holocaust von den Nationalsozialisten ermordet.

Agi Mishol kann auf ein stolzes Oeuvre zurückblicken, wofür sie auch zahlreiche Auszeichnungen bekam. Sie lebt mit ihrem Mann im Süden von Tel Aviv in einer Art Kibbuz. Nun erscheint ihr neuester Gedichtband bei Hanser in der Edition Lyrik Kabinett. "Gedicht für den unvollkommenen Menschen". Aus dem Hebräischen übersetzt hat ihn Anne Birkenhauer.

Agi Mishol findet die Poesie überall. Seien es unmittelbare Sinneseindrücke oder Gedankenfetzen, die so zart und flüchtig wie Wolken vorbeiziehen. Seien es Gereimtheiten über Alltagsphänomene, wie einen ungeernteten Kreisverkehr-Olivenbaum dessen Früchte verschmäht werden. Seien es bissige Kommentare auf das Zeitgeschehen, Theoretisches zum Dichthandwerk oder selbstvergewissernde, gebetsgleiche Meditationen. "Still dasitzen / am Wegrand im Feld / Fische angeln ohne Fluss / und ohne Haken", ob Schnappschüsse oder Langzeitbelichtungen - Mishols poetische Postkarten aus der Levante machen das Unsichtbare für uns sichtbar.

"Gedicht für den unvollkommenen Menschen" zeigt eine sehr abwechslungsreiche und zugängliche Lyrik, die hier nach allen Freiheiten der Dichtkunst betrieben wird. Formal ungebunden, oszillieren die multidimensionalen Kleinode zwischen Wortsinn und Hintersinn, zwischen Handlung und Bedeutung. Mishols Kunst atmet, eröffnet Freiräume, emotional, intellektuell, spirituell. Diese Gedichte bilden häufig konkretes Geschehen ab und weisen doch weit darüber hinaus, hinaus ins freie Feld der Kunst, der ungeahnten Möglichkeiten.

Dort, wo sich Gestern und Morgen treffen, wo Ambivalenzen verschmelzen und wo Dinge ein Eigenleben haben können. Wo auch Tiere und Pflanzen ernst genommen werden. "Mit letzter Kraft / und wie um seine Existenz zu rechtfertigen / trägt der alte Baum / eine Zitrone // ich pflücke sie nicht / komme nur jeden Tag / an ihr zu riechen. // Alle Achtung! / sage ich zu ihm / was für eine schöne Zitrone".

Mishols Verse strahlen Kraft und Zuversicht aus, sind überraschend, pointiert, glasklar, zugleich geheimnisvoll. Aus ihnen sprechen Tierliebe, Naturverbundenheit und Freundlichkeit gegenüber den Menschen. Sie sind lebensfroh, weise und unvernünftig. Von profan bis transzendent, von himmelhochjauchzend bis am Boden zerstört.

Den einfachen Freuden gegenüber ist Mishol genauso aufgeschlossen wie den metaphysischen Höhen. Ihre Gedichte sind – für das recht hohe Alter Mishols – 77 Jahre - teils unerhört frech, verspielt, jugendlich im besten Sinne des Wortes, also unvermittelt, respektlos, unbefangen – und überhaupt nicht verkopft. Darüber hinaus hat Mishol einen fabelhaften Sinn für Humor, der von fein bis robust reichen kann.

"Gedicht für den unvollkommenen Menschen" ist ein zu entdeckender Planet, ist so viel - nur eines nicht: Pathetisch. Große Gesten und Worte meidet Mishol wie der Regen die Wüste. Heraus gekommen ist ein Gedichtband , der so vielseitig, gegensätzlich und wundersam wie das Leben im Heiligen Land ist. Wo Lachen und Weinen so nah beieinander liegen wie vielleicht nirgendwo sonst.

Die sehr musikalische, klangvolle Übersetzung von Anne Birkenhauer tut ihr übriges zu einer vollendeten Lyriksammlung, die auch in Poesie ungeübte Leserinnen und Leser begeistern kann. Denn "auch wenn sich das Herz plötzlich leert – ist die Welt immer voll".

Eine Rezension von Moritz Holler

Literaturangaben:
Agi Mishol: Gedicht für den unvollkommenen Menschen
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Edition Lyrik Kabinett, 2024
112 Seiten, 24 Euro