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07.10.2018 – Leonard Bernstein, "Mass" in Gelsenkirchen

Stand: 07.10.2018, 13:50 Uhr

Die Entstehungsgeschichte von Bernsteins "Mass" ist auch aus heutiger Perspektive noch aufregend und sagt viel über das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Kunst. In der Zeit des Vietnamkriegs, der Studentenproteste und der Rassenunruhen schrieb Leonard Bernstein, Sohn ukrainisch-jüdischer Eltern, im Auftrag von Jacqueline Kennedy ein Werk über den römischen Mess-Ritus zur Eröffnung des Kennedy Center in Washington. Aber keine lineare Vertonung der Liturgie, sondern ein Theaterspektakel für "Sänger, Tänzer und Musiker".

Angeführt von einem Zelebranten wird ein katholischer Gottesdienst gefeiert, der immer wieder von einem Street Chorus unterbrochen und mit kritischen Äußerungen hinterfragt wird: „Ich glaube an Gott, aber glaubt er auch an mich“ oder „Gib uns Frieden jetzt!“. Der Zelebrant wird zunehmend verunsichert, schmeißt irgendwann die sakralen Gegenstände von sich und bricht zusammen. Seinerzeit warnte das FBI Präsident Nixon, der Uraufführung beizuwohnen und vermutete antiamerikanische Hetze.

Im Gelsenkirchener Opernhaus war man dagegen wie in einen Andachtsraum versetzt. Vorher wurde im Foyer mit dem Publikum noch der Gesang „Almighty Father“ geübt. Dann tritt Henrik Wager in Jeans und weißem Hemd auf die Bühne und eröffnet die Zeremonie in einem mit hellen Holz-Stäben ausgekleideten Raum. Die protestierenden Street People sind „Gottesdienstbesucher“ wie wir und sitzen in der ersten Reihe. Links auf der Bühne eine Blaskapelle, rechts eine Jazzcombo, der Chor oft unsichtbar und oben im Rang ein Kinderchor. 180 Mitwirkende braucht es, um Bernsteins Theaterstück in seinem Stilmix aus Musical, amerikanischer Blasmusik, Gospel, klassisch-romanischer Chorsinfonik und Avantgarde zu zelebrieren.

Das fühlte sich aber die meiste Zeit an wie Kirchentagsfolklore, ein bisschen Happening, ein bisschen erbauliches Singen, ein bisschen Kritik und ein paar schräge und fetzige Klänge, dazu Moderndance-Einlagen in einer Choreographie von Richard Siegal.

Leonard Bernstein "Mass" am Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Henrik Wager als Celebrant in Bernsteins "Mass"

In der Vorlage heißt es, der Zelebrant werde von Messdienern immer mehr eingekleidet, um schließlich seine liturgischen Gewänder von sich zu reißen. In Gelsenkirchen bekommt Henrik Wager eine Leonard Bernstein-Perücke aufgesetzt und trägt einen weißen Anzug mit weißen Lackschuhen, später noch eine Krone wie der Strahlenkranz einer Monstranz. Dann kommt der Kollaps, und der Zelebrant singt seine ergreifende Arie, in der seine Glaubenswelt zusammenbricht („Wie leicht zerbrechen die Dinge“). Sein Bernstein-Outfit hat er abgestreift. Und es beginnt eine Art kollektives Erweckungserlebnis zu einer Religion, sagen wir, der Herzen. Eine Werkkritik (Bernstein als gescheiterer Priester oder so ähnlich) wird man da nicht herauslesen, dafür läuft alles viel zu pauschal ab und vor allem auch musikalisch ziemlich flach, nicht nur weil Henrik Wager kein Opernsäger ist und Mühe hat über die Rampe zu kommen.

Das hat eher etwas mit dem Gesamtkonzept des Gelsenkirchener GMD Rasmus Baumann zu tun, dass trotz des Massenaufgebots an Mitwirkenden die Musik sich knappe zwei Stunden nivelliert dahin bewegt und man sich langsam fragt, ob der Stilmix in Bernsteins “Mass“ selbst Patina angesetzt hat. Das ist nicht der Fall. Man muss nur noch mal in Bernstein eigene Aufnahme reinhören, in der die Musik grell, schnell, heftig, ausdrucksgeladen, virtuos und vielgestaltig erklingt, in der sich Bernstein als Bruder im Geiste von Charles Ives erweist und nicht von Andrew Lloyd Webber.

Premiere: 06.10.2018, noch bis zum 16.02.2019

Besetzung:

Celebrant: Henrik Wager
Solist des Knabenchores der Chorakademie Dortmund: Jonas Finkemeyer

Street Chorus
Tänzerinnen und Tänzer des Balletts im Revier
Opernchor und Projektchor des MiR
Knabenchor der Chorakademie Dortmund - Einstudierung Jost Salm
Neue Philharmonie Westfalen

Musikalische Leitung: Rasmus Baumann / Giuliano Betta
Inszenierung und Choreografie: Richard Siegal
Bühne und Licht: Stefan Mayer
Kostüm: Richard Siegal
Chor: Alexander Eberle
Dramaturgie: Stephan Steinmetz
Ton: Marco Brinkmann
Mitarbeit Kostüm: Andreas Meyer Sylvia Tschech