Ein Jahr "Zeitenwende": Was ist bisher passiert?

Stand: 27.02.2023, 09:46 Uhr

Vor genau einem Jahr rief Bundeskanzler Scholz eine "Zeitenwende" aus. Wichtiger Punkt dabei: die Aufrüstung der Bundeswehr. 100 Milliarden Euro wurden dafür bereitgestellt. Doch bisher hat sich nicht viel getan.

Von Nina Magoley

"Wir erleben eine Zeitenwende", hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022, wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, verkündet: "Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe, wie die Welt davor."

Der Begriff "Zeitenwende" brachte einerseits zum Ausdruck, was wohl die meisten Menschen fühlten: Eine neue Ära beginnt. So, wie wir bisher gelebt haben, wird es nicht weitergehen. Wissenschaftler und Ökonomen warnten vor Gasmangel, kalten Wohnungen - und vor der Gefahr eines Dritten Weltkriegs.

Zum anderen wollte Scholz die Bundesbürger mit dem Begriff frühzeitig auf unbequeme Entscheidungen einstellen: Sparmaßnahmen einerseits, aber auch den Bruch mit Tabus und Vorsätzen, die in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs mehr oder weniger als unverrückbare Gesetze galten.

So würde auch der Blick auf die eigene Armee ein anderer werden: Ein wichtiges Element der "Zeitenwende" betraf die marode vor sich hindümpelnde Bundeswehr. Durch ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro sollte die Truppe möglichst schnell in Schuss gebracht werden.

Wo steht die Bundeswehr heute?

Wie ist es ein Jahr später um die Truppe bestellt? Große Mengen an Ausrüstung, Waffen und Munition aus den Beständen hat die Bundesregierung in die Ukraine geliefert, 14 "Leopard"- Kampfpanzer und 40 Schützenpanzer vom Typ "Marder" sollen bald folgen.

Doch die Lieferungen erzeugen Lücken: Heeresinspekteur Alfons Mais stellte kürzlich klar, dass die 100 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen nicht ausreichen würden, um die Bundeswehr - auch, nachdem so viel an die Ukraine abgegeben wurde - schlagkräftig aufzustellen. Schon vor einem Jahr, als der russische Angriff auf die Ukraine gerade begann, hatte Mais gewarnt: Die Bundeswehr stehe "mehr oder weniger blank da".

Auch André Wüstner, Chef des Bundeswehrverbands, mahnte in der  "Bild am Sonntag": Der Konflikt mit Russland könne noch lange dauern, daher müsse die Bundeswehr schneller aufgerüstet werden. Die Materiallücken durch die Lieferungen an die Ukraine seien nicht ansatzweise geschlossen, sagte Wüstner demnach, auch Leopard-Panzer müssten schnell nachbestellt werden.

Rüstungsindustrie wartet auf Aufträge

Ein Panzer vom Typ Leopard-2A6 der Bundeswehr bei einer Übung in der Heide

Ein Panzer vom Typ Leopard-2A6

Für die deutsche Rüstungsindustrie ist Krieg ein Riesengeschäft. Die 100 Milliarden Euro Sonderetat sorgten dort anfänglich für Hochstimmung. Doch mittlerweile klingen die Verantwortlichen frustriert: Bislang kämen kaum Aufträge von der Bundesregierung, sagte Hans-Christoph Atzpodien, Chef des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), der Deutschen Presseagentur. Von den 100 Milliarden seien bislang nur ein kleiner Teil abgerufen worden. "Es ist bedauerlich, dass es aus dem Sondervermögen bisher nur wenige Bestellungen bei deutschen Unternehmen gab, weil die Politik im letzten Jahr stark mit Haushaltsfragen beschäftigt war."

Anfang Januar antwortete das Bundesfinanzministerium auf eine Anfrage der CDU im Bundestags, dass 2022 kein Geld aus dem Sondervermögen geflossen sei. Es seien aber für 2023 zehn Verträge in Höhe von insgesamt rund 10 Millionen Euro mit Unternehmen abgeschlossen worden.

Eins davon ist Rheinmetall in Düsseldorf, der größte Waffenhersteller in Deutschland. Mitte Februar gab der Konzern bekannt, dass das Verteidigungsministerium "stellvertretend für die Ukraine" Rheinmetall mit der Lieferung von 300.000 Patronen für den Flugabwehrkanonenpanzer Gepard beauftragt habe. Man baue gerade eine zusätzliche Mittelkaliberfertigung am Standort Unterlüß in der Lüneburger Heide auf - als Reaktion "auf die gestiegene Nachfrage auf dem Weltmarkt".

Pistorius will Verfahren prüfen

Andere Waffenhersteller warten noch auf Aufträge, so der Münchner Konzern Krauss-Maffei Wegmann (KMW). Geschäftsführer Ralf Ketzel sagte am Montag im WDR, man habe zwar einige Gepard-Panzer, Panzerhaubitzen und Raketenwerfer in die Ukraine geliefert. Aufträge aus dem Sondervermögen aber habe KMW noch nicht erhalten.

Verteidungsminister Boris Pistorius

Verteidungsminister Pistorius: 300 Panzer an die Ukraine

Im Interview mit dem Deutschlandfunk erklärte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) dazu am Sonntag, er gehe davon aus, dass bis Ende des Jahres 30 von den 100 Milliarden Euro ausgegeben werden können. Er wolle jetzt herausfinden, "welche Vorschriften wir eigentlich anwenden in der Beschaffung aus Zeiten von vor Beginn des Krieges Putins gegen die Ukraine". Dann lasse sich einschätzen, an welcher Stelle man schneller werden könne. Beschaffung im militärischen Bereich sei "keine Online-Bestellung", sagte Pistorius.

Dass fast ein ganzes Jahr zwischen der Ankündigung des Sondervermögens und den ersten Aktionen vergangen ist, findet auch Aylin Matlé, Sicherheitsexpertin der Gesellschaft für Auswärtige Politik, bedenklich. Prozesse im Beschaffungswesen müssten angepasst werden, um mehr Schnelligkeit und Flexibilität zu erreichen, sagte sie im WDR. "Es wird noch Jahre dauern, bis Großgerät auf dem Hof und den Soldaten zur Verfügung steht." Bei der Ausrüstung von Material und Truppen habe "Deutschland wirklich nicht viel Zeit" - zumal jetzt auch den Bündnispartnern in Osteuropa signalisiert werden müsste, "dass Deutschland verstanden hat, worum es geht seit dem 24. Febraur 2022".

SPD: Umsetzung der Investitionen "brauchen Zeit"

Das 100-Milliarden-Programm sei jetzt "in die Umsetzungsphase gegangen", sagte Wolfgang Hellmich, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, am Montagmorgen im WDR. "Das braucht Zeit." Für das ersten Halbjahr seien Bestellungen über acht Milliarden Euro geplant. Weiter blieb Hellmich im Interview schwammig: Die Bundeswehr müsse umstrukturiert werden, damit "entsprechend Kräfte freigesetzt werden". Es sei "ein breites Feld" an Aufgaben zu tun.

Dass Hellmichs Koalitionskollege, der Grünen-Parteichef Omid Omnipour, kürzlich kritisiert hatte, Gelder für die Bundeswehr würden "in merkwürdigen Projekten versickern", schob der Sozialdemokrat im WDR Interview beiseite: Das seien "Allgemeinplätze, mit denen ich relativ wenig anfangen kann". Hellmich selber dagegen hatte kürzlich staatliche Anschubinvestitionen für die Rüstungsindustrie gefordert. Das sei notwendig, damit die Firmen Material kaufen könnten und "gut ausgerüstet an den Start gehen können".

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