Waffenstillstand in Israel und Geiselaustausch auf der Kippe?
Aktuelle Stunde . 16.01.2025. 42:48 Min.. Verfügbar bis 16.01.2027. WDR. Von Andrea Moos.
Nahost-Experte: Geplante Waffenruhe in Gaza ist Zeichen der Hoffnung
Stand: 16.01.2025, 15:20 Uhr
Im Gaza-Krieg scheint eine Waffenruhe in greifbarer Nähe. Was bedeutet das für die Region? Einschätzungen eines Nahost-Experten.
Im Gaza-Streifen soll ab Sonntag für mehrere Wochen eine Waffenruhe gelten. Dort wird gefeiert. In Israel bangen die Angehörigen der Geiseln weiter. Ist das der Anfang einer Befriedung des Nahen Ostens? Antworten des Nahost-Experten Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im WDR-Interview.
WDR: Herr Lintl, was bedeutet die mögliche Waffenruhe in Gaza für die Lage im Nahen Osten?
Peter Lintl: Eine solche Waffenruhe würde zunächst einmal zur Stabilisierung der Lage im Nahen Osten beitragen. Allerdings sprechen wir hier nur von einer ersten Phase der Waffenruhe von 42 Tagen. Erst danach entscheidet sich ein Nachkriegsszenario.
Nahost-Experte Peter Lintl
Viel wichtiger ist deshalb die zweite Phase. Denn erst dann kann man wirklich von einem Ende des Krieges sprechen. Im Moment reden wir von einer Übergangsphase, von der noch nicht gesagt ist, dass sie auch in die zweite Phase münden wird.
WDR: Ist das ein Zeichen der Hoffnung auf eine Beruhigung in der Region?
Lintl: Ja, es ist für viele Beteiligte ein Zeichen der Hoffnung: Dass die Geiseln nach Israel zurückkommen. Dass die Palästinenser durchschnaufen können. Dass wieder mehr humanitäre Hilfe in den Gazastreifen reinkommt. Und natürlich auch für die Region, die durch den Gaza-Krieg aufgeheizt worden ist.
Hoffen auf Geisel-Rückkehr
Ein Waffenstillstand in Gaza wäre überhaupt die Voraussetzung, dass man über Annäherungen oder Friedensverhandlungen zwischen Israel und Saudi-Arabien reden kann. Das könnte die Region noch weiter beruhigen.
WDR: Israel wirft der Hamas vor, in letzter Minute Zugeständnisse zu erpressen. Die Hamas weist dies zurück. Wie schätzen Sie diesen Schlagabtausch ein?
Lintl: Derzeit ist nicht klar, ob die Hamas wirklich neue Forderungen erhoben hat, oder ob Netanjahu noch mehr Zeit braucht, um die Hardliner seiner Regierung von diesem Deal zu überzeugen. Beides ist im Bereich des Möglichen.
WDR: Die Unterstützung der Hamas ist kleiner geworden: Es gibt den Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah-Miliz im Libanon und den Sturz des Assad-Regimes in Syrien. Was ändert sich dadurch?
Lintl: Dass die Unterstützer dezimiert wurden, könnte einer der Gründe sein, warum die Hamas nun anscheinend einlenkt. Zu Kriegsbeginn war die Ausgangslage ja noch eine ganz andere. Jetzt scheint die Hamas in der Region relativ isoliert zu sein und selbst auch extrem geschwächt.
WDR: Wie stark ist die Hamas noch?
Lintl: Das ist schwer zu sagen. Die Führungsriege ist fast komplett ausgelöscht. Es scheint zudem Differenzen zu geben zwischen der politischen Führung im Exil und der militärischen Führung im Gaza-Streifen.
Trümmerfeld in Gazastadt
Auch wenn es Meldungen gibt, dass die Hamas angeblich Zulauf hat und immer noch über Tausende Kämpfer verfüge: Sie ist nicht mehr die Organisation, die sie vorher war. Ihre strategischen Kapazitäten sind zerstört, die Elitekämpfer sind weg, die Waffen sind größtenteils nicht mehr einsetzbar. Sie kann nur noch aus Tunneln heraus operieren und Gaza nicht mehr kontrollieren.
Die Frage ist natürlich, wie wird ein Szenario nach dem Krieg aussehen? Wie einigen sich die Konfliktparteien? Die Hamas will wahrscheinlich weiterhin Gaza regieren, das wird Israel nicht akzeptieren.
WDR: Wie kann ein Wiedererstarken der Extremisten in der Region verhindert werden?
Sicherheitsgefühl hilft gegen Radikalisierung
Lintl: Da muss man auch genau hingucken. Oftmals wird von Re-Education, also der Neuerziehung der Palästinenser im Gaza-Streifen gesprochen. Bildung spielt zwar eine Rolle, aber wir wissen auch, dass Radikalisierung von anderen Faktoren abhängt. Als erstes vom Konflikt selbst, aber auch von der persönlichen und wirtschaftlichen Sicherheit, auch politischen Horizonten.
Das ganze Drumherum muss auch stimmen, damit Menschen wieder eine Zukunft für sich sehen. Das ist, so weiß man aus der Forschung, kein hundertprozentig sicheres Mittel, aber wohl das beste Mittel, um Radikalisierung zu verhindern.
WDR: Welche Rolle kommt Israel dabei zu?
Wie geht es in Israel weiter?
Lintl: Israel wird primär die eigenen Sicherheitsinteressen im Auge haben - und das aus guten Gründen. Die Frage ist, auf was kann sich diese Regierung im Moment einigen? Denn die rechtsextremen Hardliner wollen auf keinen Fall die Kontrolle über Gaza aufgeben.
Deswegen muss man sehen, was Israel bereit ist zu akzeptieren: Was sind die Mindestsicherheitsstandards, die eine israelische Regierung akzeptieren kann? Welches Szenario kann ein Staat Israel für Gaza akzeptieren und welches nicht?
WDR: Was kann die Weltgemeinschaft für einen dauerhaften Frieden in der Region tun?
Lintl: Dafür gibt es kein Patentrezept. Eine Aufgabe für die Weltgemeinschaft wird es sein, den Wiederaufbau des Gaza-Streifens zu unterstützen. Dabei können die arabischen Golfstaaten, vielleicht auch Ägypten und Saudi-Arabien, sicherlich aber die Europäer und die Amerikaner eine Rolle spielen.
Die entscheidende Frage wird sein: Wie kann es gelingen, einen Zustand herbeizuführen, in dem Israel sich ausreichend sicher fühlt, in dem Saudi-Arabien gegebenenfalls zustimmen kann, in dem es auch einen Weg zu einer palästinensischen Selbstbestimmung gibt? Das ist der Gordische Knoten, den es zu lösen gilt.
Das Interview führte Dominik Reinle.