Kirche und Missbrauch: Wo bleibt der Staat?

Stand: 26.09.2022, 06:00 Uhr

Die SPD im Bundestag will die deutsche katholische Kirche zwingen, ihre Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch an staatliche Standards anzupassen, notfalls mit Strafzahlungen.

SPD-Bundestagsabgeordneter Lars Castellucci

SPD-Bundestagsabgeordneter Lars Castellucci

Selbstkritisch, so zeigt sich der SPD-Bundestagsabgeordnete Lars Castellucci im WDR-Interview. Die Politik sei zu nachlässig gewesen mit den Kirchen, habe zu sehr vertraut. Denn die versuchen, die jahrzehntelange sexualisierte Gewalt von Geistlichen an Kindern und Jugendlichen und deren Vertuschung selbst aufzuarbeiten. Der Staat ließ sie machen. "Mittlerweile kann ich nur noch sagen", kritisiert der Sozialdemokrat, "dass ich den Prozess als quälend empfinde und auch gar nicht mehr weiß, wie man reagieren soll, wenn wieder das nächste Gutachten veröffentlicht wird."

Ab Montag treffen sich in Fulda die deutschen Bischöfe zu ihrer alljährlichen Vollversammlung im Herbst. Ein Themenschwerpunkt werden Umgang und Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche sein. 27 Bistümer gibt es in Deutschland. 27 Studien soll es geben, so scheint der Plan der Bischöfe. Mal von Juristen, mal von Historikern, die Untersuchungszeiträume variieren und immer wieder werden Veröffentlichungen verschoben, obwohl gerade die Betroffenen von sexualisierter Gewalt seit Jahren darauf warten. SPD-Politiker Castellucci fordert eine neue einheitliche Studie für die gesamte katholische Kirche in Deutschland: "Ich halte es für verrückt, dass dieser Weg nicht beschritten worden ist."

Geld soll Stiftung für Betroffene erhalten

Wie Aufarbeitung aussehen soll, sei eigentlich längst geregelt, sagte Castellucci, der Beauftragter seiner Fraktion für Kirchen ist. Die "Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs" habe Richtlinien erarbeitet. Die könnten nun mit einem neuen Gesetz bindend werden. Und wer sich nicht daran hält? "Die erste Konsequenz, die einem einfällt, sind immer Strafzahlungen", sagt er. Die könnten dann in eine Stiftung fließen, eine Art Opfergenesungswerk.

Am neuen Gesetz, von dem Castellucci redet, wird schon im Familienministerium gearbeitet. 2023 soll es verabschiedet werden. In ihm soll nicht nur die Aufarbeitungskommission gesetzlich verankert werden. Auch die Missbrauchsbeauftragte des Bundes soll mehr Rechte bekommen.

Künftig Aufarbeitungsbericht im Bundestag

Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus

Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus

Kerstin Claus hat sich jahrlang ehrenamtlich als Betroffene engagiert. Seit April 2022 ist sie die Missbrauchsbeauftragte, hauptberuflich. Ein Eckpunkt im Gesetz: Sie soll dem Bundestag Bericht erstatten. "Das Thema sexuelle Gewalt muss in die Mitte des Parlamentes, weil sexuelle Gewalt in der Mitte unserer Gesellschaft ist", sagt sie.

Claus fordert außerdem, dass jede und jeder Betroffene das Recht bekommt, im Kirchenarchiv oder anderswo zu recherchieren. Es dürfe nicht mehr passieren, dass Betroffene vor Mauern des Schweigens rennen.

Derek Scally, irischer Journalist in Berlin

Derek Scally, irischer Journalist in Berlin

Viele Betroffene wünschen sich, dass der Staat die Aufarbeitung übernimmt, wie etwa in Irland. Der Journalist Derek Scally von der "Irish Times" ist Kirchenkenner und sagt, in Irland hätten Richterinnen und Richter staatliche Aufarbeitungskommissionen geleitet: "Der Erzbischof von Dublin, zum Beispiel, ist einfach zu diesen Richtern gegangen und hat gesagt, hier ist der Schlüssel zu meinem Archiv, bedienen Sie sich. Das war ein radikaler Schritt."

Die katholischen Bischöfe wollen sich auf Nachfrage vor ihrer Vollversammlung diese Woche in Fulda nicht äußern, sie seien aber mit Kerstin Claus im Gespräch.

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