Fast ein Jahr nach Beginn der russischen Großinvasion in der Ukraine, kritisiert Selenskyj im exklusiven ARD-Interview die Haltung der Bundesregierung, bei Waffenlieferungen keine Alleingänge machen zu wollen. Einen Ausschnitt des Interviews mit dem ARD-Korrespondenten in Kiew, Vassili Golod, gibt es hier zum Nachlesen.
Vassili Golod: Ist für Sie gerade wichtiger, wer die Waffen, die Sie brauchen, liefert, als die Frage, woher neue Angriffe kommen könnten?
Wolodymyr Selenskyj: Die Ukraine braucht Schutz auf dem Schlachtfeld. Alles, um Menschen zu schützen, die ihr Zuhause verteidigen wollen, die dafür viel riskieren. Sie wissen sogar, dass sie sterben werden. Das ist eine andere Sache, als zu glauben, dass sie es nur könnten. Unsere Leute haben eine andere Motivation als die Russen.
Golod: Bundeskanzler Scholz hat sich bereit erklärt, "Leopard"-Panzer zu liefern, wenn die USA "Abrams"-Kampfpanzer liefern. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Selenskyj: Bundeskanzler Scholz hat der Ukraine ein sehr gutes Unterstützungspaket geliefert. Ich bin ihm sehr dankbar dafür. Und ich bin den Vereinigten Staaten sehr dankbar für ein starkes Paket. Aber ich denke, es ist problematisch, was jetzt gesagt wird. Es ist nicht korrekt den Menschen hier gegenüber.
So nach dem Motto: "Wenn Amerika einen Zug macht, dann werde ich auch etwas unternehmen." Das ist keine Sache zwischen Deutschland und Amerika. Es ist kein Wettbewerb.
Ihr seid doch erwachsene Leute. Sie können gerne noch sechs Monate lang so reden. Aber bei uns sterben Menschen - jeden Tag. Im Klartext: Kannst du Leoparden liefern oder nicht? Dann gib sie her. Es ist ja nicht so, dass wir angreifen, falls sich da jemand Sorgen macht. Diese Leoparden werden nicht durch Russland fahren. Wir verteidigen uns!
Golod: Nach Beginn der Invasion haben Sie noch mit Russland verhandelt. Irgendwann haben Sie gesagt: Das macht keinen Sinn mehr. Was muss passieren, damit Verhandlungen mit Russland wieder Sinn machen?
Selenskyj: Die Ukraine muss als Land respektiert werden, und wenn das nicht passiert, dann muss wenigstens internationales Recht respektiert werden. Man kann nicht einfach als Gast irgendwohin kommen, wenn man nicht eingeladen ist. Das ist zumindest unhöflich. Nett gesagt.
Aber hier… man ist eingebrochen, man hat vergewaltigt, jemanden erschossen, die Glieder abgehackt und bei lebendigem Leib begraben. Und dann sagt dieser Einbrecher: "Ich habe schon in drei Zimmern Ordnung geschaffen, hier ist bei dir noch die Küche übrig geblieben, ich möchte mich mit dir hinsetzen und reden." Und dann wehrt sich der Bewohner, dieser Einbrecher bekommt einmal einen drauf, zweimal einen drauf. Sich in die Küche zu setzen und zu reden, wird also nicht gehen. Das passt nicht zusammen.
Wir müssen pragmatisch werden. Unser Territorium muss befreit werden, je schneller, desto weniger Opfer, desto mehr Chancen auf eine diplomatische Lösung gibt es. Sie müssen unser Land komplett verlassen, sie müssen aufhören, auf uns zu schießen. Die Waffen müssen schweigen.
Sie müssen die Tragödie und ihre Schuld anerkennen, dann können wir über diplomatische Schritte reden. Wir brauchen eine Erstattung unserer Schäden - und ich rede hier nicht nur über Geld. Wir brauchen Gerechtigkeit.
Golod: Was unterscheidet den Wolodymyr Selenskyj, der mir heute gegenüber sitzt, von dem Wolodymyr Selenskyj von vor einem Jahr?
Selenskyj: Ich erinnere mich nicht einmal, was vor einem Jahr war. Ich bin wahrscheinlich weniger emotional inzwischen. Ich muss meine Energie über den Tag verteilen. Ich kann es mir nicht leisten, zu emotional oder scharf zu reagieren, wir sind mitten im Krieg.
Das Interview wurde für die Textfassung gekürzt. Das ganze Interview zum Nachschauen im Brennpunkt: "Panzerpoker: Leoparden für die Ukraine?" und auf Tagesschau24.