Selbstdiagnose ADHS: Hat Tiktok Recht?
Stand: 21.03.2023, 18:57 Uhr
ADHS, Autismus, Depressionen? Auf Tiktok diagnostizieren sich junge Menschen mit psychischen Erkrankungen - mit Videos, die vermeintliche Anzeichen erklären. Jasmin sagt: Das war ihre Rettung. Aber wie groß ist das Risiko, sich zu täuschen?
Von Elena Tara Bavandpoori
"Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich je ohne Tiktok auf die Diagnose ADHS und Autismus gekommen wäre", sagt Jasmin (Bild oben). Ihre Tiktok-Startseite ist voll mit Inhalten zu mentaler Gesundheit. Seit Jahren beschäftigt sie das Thema, da sie in vorherigen Therapien keine Besserung ihrer Psyche findet.
Jasmins Suche nach einer Diagnose auf der Plattform ist kein Einzelfall: Momentan werden Selbstdiagnosen dort viel diskutiert. Immer wieder kommentieren unter sogenannten "Anzeichen-Videos", die Symptome einer bestimmten Erkrankung oder Störung zeigen, Nutzerinnen und Nutzer, die sich mit den Inhalten identifizieren - und bei sich selbst Anzeichen entdeckt haben wollen.
"5 Dinge, die Anzeichen für Autismus sind" verspricht dieses Video.
Solche kurzen Erklärvideos können für viele Menschen, vor allem beim aktuellen Therapieplatzmangel, verlockend sein. Es gibt aber auch einige Tücken.
Was ist das Problem an Selbstdiagnosen?
Tiktok ersetzt allmählich für die Generation Z den altbekannten Dr. Google. Allerdings bekommt nicht nur der Videos zum Thema mentale Gesundheit ausgespielt, der aktiv danach sucht. Bei Tiktok werden solche Videos auch ungefragt angezeigt.
Problematisch daran: Erkennt der Algorithmus, dass uns diese Inhalte gefallen oder wir sie lange anschauen, bekommen wir immer mehr davon ausgespielt. Damit kann man in eine Art Krankheitsspirale geraten: "Ein Phänomen, das wir schon kennen, ist die soziale Ansteckung. Je mehr man dazu liest, desto mehr gerät man da rein", erklärt die Kinder- und Jugendtherapeutin Katrin Scholta.
Eine weitere Gefahr besteht darin, dass die Inhalte dieser Videos nicht immer fachlich korrekt sind. Eine kanadische Studie hat herausgefunden, dass rund die Hälfte der untersuchten Tiktok-Videos zu ADHS Fehlinformationen verbreiten. Darunter fällt etwa die Benennung falscher Symptome. Als Beispiel sehen Expertinnen und Experten die "ADHS-Paralyse", das Gefühl, unfähig zu sein, etwas zu tun. Das ist allerdings kein Symptom, über das ADHS in der Therapie diagnostiziert wird.
Laut Katrin Scholta sind diese Videos nicht trennscharf - denn damit könnten sich auch viele Menschen ohne psychische Erkrankungen identifizieren. Anhand verkürzter oder irreführender Videos sollten also besser keine Vermutungen über die eigene Psyche aufgestellt werden.
Haben Tiktok-Diagnosen auch Vorteile?
Ein Gewinn bei Tiktok ist, dass sich auf der Plattform junge Menschen über ihre psychische Verfassung offen äußern können und ihre Geschichten teilen. Dadurch können die Betroffenen das Stigma loswerden und eine Gemeinschaft finden, in der sie sich wohlfühlen und austauschen können, so Therapeutin Katrin Scholta.
Außerdem kann man über solche Videos Eigenschaften an sich erkennen, die vielleicht auf eine psychische Erkrankung hinweisen und diese als Sprungbrett zur Therapie nutzen.
So war es bei Jasmin aus Castrop-Rauxel: Sie hat durch TikTok Autismus und ADHS bei sich vermutet und lag tatsächlich richtig. Mit ihrer Verdachtsdiagnose ist sie zum Therapeuten gegangen - kurze Zeit später lag die offizielle Diagnose für beide Störungen vor.
"Wenn ich Tiktok nicht gehabt hätte, hätte es vielleicht noch zehn Jahre gebraucht, um irgendwo einen Artikel dazu zu lesen", erzählt Jasmin. Sie hatte verschiedene Therapien im Vorfeld gemacht, wurde medikamentös gegen depressive Episoden und Angstzustände therapiert. Allerdings haben die Therapien bei ihr nicht angeschlagen. Denn die Symptome waren eine Folge der undiagnostizierten ADHS und des Autismus.
Jetzt, wo die Wurzel ihrer Beschwerden behandelt wird und sie eine passende Therapie gefunden hat, geht es ihr deutlich besser, sagt sie. Deshalb befürwortet sie Selbstdiagnosen - wenn sie dazu führen, dass man sich professionelle Hilfe sucht.
"Der Begriff Selbstdiagnose ist an sich schon kritisch, da Diagnosen nur von Ärzten oder Therapeuten gestellt werden dürfen", so Therapeutin Katrin Scholta. Dennoch müsse man Selbstdiagnosen im Sinne eines Verdachts oder einer Vermutung nicht direkt verteufeln.
Tiktok könne auch ein erster Schritt sein, um sich Hilfe zu holen. Allerdings gibt es einige Schritte, die zu bedenken sind.
Was ist der beste Umgang mit Tiktok-Inhalten zu mentaler Gesundheit?
- Inhalte von Fachkräften konsumieren: In den Profilen prüfen, welche Qualifikationen die Tiktoker haben.
- Quellen checken: Sich auf anderen Webseiten zusätzlich Informationen holen und zu den Videos abgleichen.
- Den Algorithmus mitsteuern: Beispielsweise"nicht interessiert" klicken, wenn viele Videos mit belastenden Inhalten angezeigt werden.
- Handeln: Wenn man sich tatsächlich in den Inhalten wiedererkennt, mit diesem Verdacht zu einer Therapie oder Beratungsstelle gehe - auch wenn das deutlich länger dauert, als sich ein paar Videos anzuschauen.
Einige Betroffene äußern die Sorge, dass anhand solcher Videos, Störungen oder Erkrankungen zu einer Trenderscheinung werden und damit der eigentliche Leidensdruck der Betroffenen verwaschen wird. Denn Betroffene gehen oftmals einen langen, anstrengenden Weg bis zur offiziellen Diagnose und auch danach ist keine Behandlung oder gar Heilung garantiert.
Klar ist: Tiktok ersetzt keine professionelle Diagnostik und in Deutschland gibt es weiterhin einen Mangel an Therapieplätzen. Tiktoks Pressestelle hat bis zum Recherche-Ende kein schriftliches Statement abgegeben, wie das Unternehmen seine eigene Verantwortung als Plattform bei Diagnose-Videos sieht.
Die ganze Reportage zu "Selbstdiagnosen auf Tiktok" gibt es auf dem YouTube-Kanal von reporter: