Das Atomkraftwerk von Saporischschja

Kampf ums Atomkraftwerk Saporischschja: Was wir bisher wissen

Stand: 11.09.2022, 16:03 Uhr

Beim Atomkraftwerk Saporischschja zeigt der Ukraine-Krieg sein besonders grausames Gesicht: Seit Wochen wird das AKW beschossen. Ein Atomunfall wäre eine internationale Katastrophe. Wie ist die Lage?

Im ukrainischen Saporischschja ist das größte Atomkraftwerk Europas zum Ziel von Raketenangriffen und Artilleriefeuer geworden. Seit Anfang August wird das AKW im Ukraine-Krieg regelmäßig beschossen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte nach einem besonders heftigen Beschuss gewarnt, die Ukraine und alle Europäer seien "nur einen Schritt von einer nuklearen Katastrophe entfernt" gewesen. Auch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA hält nach einer Inspektion die Lage in dem Kraftwerk für "unhaltbar" und fordert eine Schutzzone rund um das AKW und einen sofortigen Stopp der Kampfhandlungen in der gefährdeten Zone.

Wie ist die aktuelle Lage?

Der Betrieb des von russischen Truppen besetzten AKWs ist nach Angaben des staatlichen Betreibers Energoatom mittlerweile (Stand: 11.09.2022) vollkommen eingestellt worden. Auch der sechste und damit letzte Block der Anlage sei vom Stromnetz genommen worden, teilte Energoatom mit. Rings um das größte AKW in Europa kommt es immer wieder zu Kämpfen zwischen ukrainischen und russischen Truppen.

Wer schießt auf das Atomkraftwerk?

Das ist bis jetzt unklar. Russland und die Ukraine bezichtigten sich seit Beginn der Angriffe gegenseitig. Das russische Verteidigungsministerium meldet regelmäßig einen ukrainischen Beschuss der Anlage, bei dem auch Lagergebäude für nukleare Brennstoffe und verbrauchte Brennelemente getroffen worden seien. Der ukrainische Energiekonzern Energoatom spricht hingegen ebenso regelmäßig von einem Beschuss durch russische Truppen.

Wer Recht hat, lässt sich derzeit noch nicht mit Sicherheit sagen. Dennoch gibt Deutschland die Verantwortung für die gefährliche Situation der russischen Seite. "Es ist Russland, das das Kraftwerk militarisiert. Es ist Russland, das Ausrüstung und Truppen auf dem Gelände stationiert", sagte der stellvertretende deutsche UN-Botschafter Thomas Zahneisen unlängst im UN-Sicherheitsrat.

Was sagt die Internationale Atomenergiebehörde?

Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA hat nach dem Abschluss einer Inspektion in dem umkämpften AKW Moskau und Kiew zur Einrichtung einer Schutzzone rund um das Werk aufgefordert. Der Beschuss des Werksgeländes müsse sofort aufhören, heißt es in einem Untersuchungsbericht, der am Dienstag (06.09.2022) veröffentlicht wurde.

IAEA-Chef Rafael Grossi warnte vor der latenten Gefahr einer nuklearen Katastrophe, wenn die Kämpfe rund um das AKW nicht sofort eingestellt werden: "Wir spielen mit dem Feuer, und etwas sehr, sehr Katastrophales könnte geschehen." Beide Konfliktparteien reagierten zurückhaltend auf den Aufruf.

Wer ist derzeit für die Sicherheit und den Betrieb zuständig?

Im März hatten russische Truppen das Atomkraftwerk Saporischschja besetzt. Sie kontrollieren seitdem das angrenzende Gebiet am linken Flussufer des Dnipros, während das ukrainische Militär das rechte Flussufer besetzt hält. Die Gegend rund um das größte Atomkraftwerk Europas gehört also derzeit zu den heftig umkämpften Gebieten im Ukrainekrieg.

Betrieben wird das Atomkraftwerk seit Beginn der russischen Besetzung weiterhin durch eine Restmannschaft an ukrainischen Technikern des staatlichen Betreibers Energoatom. Nach Meldungen der "New York Times" werden sie von 500 bewaffneten russischen Soldaten bewacht.

Wie wahrscheinlich ist ein Atomunfall in der Ukraine? I Lufthansa-Streik abgesagt I Quiet Quitting – Eure Meinungen I 0630

0630 - der News-Podcast 07.09.2022 20:49 Min. Verfügbar bis 07.09.2027 WDR Online


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Wie groß ist die Gefahr eines Atomunfalls?

Angesichts der teilweise heftigen Kampfhandlungen ist ein Unfall zumindest nicht ausgeschlossen - und das ist für Experten eine höchst beunruhigende Vorstellung.

Eine Zerstörung des Bauwerks ist aber offenbar nicht die einzige Gefahr: Experten sind sich einig, dass auch ein Stromausfall der Anlage - wie es bereits mehrmals der Fall war - schwerwiegende Folgen haben könnte. Die Stromversorgung sei "die Lebensader eines Atomkraftwerks, da es auch in ausgeschaltetem Zustand gekühlt werden muss", sagt Atomexperte Heinz Smital von Greenpeace.

Zwar gebe es für solche Fälle Notstrom-Dieselgeneratoren – ob die aber in der aktuellen Kriegssituation wirklich funktionierten, sei die Frage. Hinzu komme der Faktor Mensch: Es sei davon auszugehen, dass das verbliebene ukrainische Personal im Kraftwerk unter enormem Stress stehe. "Da kann man nicht erwarten, dass die alles richtig machen." Die Voraussetzungen für einen schweren Unfall durch Bedienfehler seien real.

Solch ein Bedienfehler habe zum Beispiel 1979 auch zu dem hochgefährlichen Atomunfall im US-amerikanischen Harrisburg geführt, wo es zu einer Kernschmelze kam. Tagelang kämpften Techniker dort gegen eine drohende Explosion des Kraftwerks an, die USA standen knapp vor einer nuklearen Katastrophe.

Was ist dran an Gerüchten über Folter im Atomkraftwerk?

Schon im März hatte der ukrainische Energieminister behauptet, Mitarbeiter des Atomkraftwerks Saporischschja würden gefoltert. Im August meldeten auch mehrere internationale Menschenrechtsgruppen und die britische Zeitung "The Telegraph", dass verbliebene und geflohene Angestellte des Kraftwerks von Folter durch russische Sicherheitskräfte berichtet hätten. Damit sollte angeblich verhindert werden, dass die Techniker mit dem IAEA-Expertenteam sprechen und ihnen die mutmaßlich katastrophalen Bedingungen in Saporischschja zeigen.

Der russische Umweltaktivist Vladimir Slivyak im Gespräch mit WDR-Reporterin Mathea Schülke

Slivyak im Gespräch mit WDR-Reporterin Mathea Schülke

Der russische Umweltaktivist und Inhaber des Alternativen Nobelpreises, Vladimir Slivyak, bezeichnete die Vorwürfe als plausibel. Im WDR-Interview sagte Slivyak, der psychische Druck, unter dem das Kraftwerkpersonal stehe, sei immens. Schichten von bis zu 16 Stunden seien üblich, das Risiko von Fehlern und Unfällen steige damit. "Ich denke, die Situation ist sehr gefährlich."

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