Keine Hilfe für suizid-gefährdetes Kind

Lokalzeit aus Dortmund 04.10.2024 13:06 Min. Verfügbar bis 04.10.2026 WDR Von Laura Kasprowiak

Duisburg: Krankenhaus weist Kind nach Suizidversuch ab

Stand: 08.10.2024, 17:15 Uhr

Die Familie des Jungen kritisiert die Klinik und hat rechtliche Schritte eingeleitet. Der Fall legt grundlegende Probleme offen.

Von Laura Kasprowiak

Ein erschütternder Fall aus Duisburg verdeutlicht die dramatische Lage in der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Der achtjährige Finn wird nach einem Suizidversuch ins Bertha-Krankenhaus gebracht – das einzige Duisburger Krankenhaus mit einer Kinderpsychiatrie. Doch die Ärzte stuften seine Situation als "nicht akut“ ein. Die Familie bleibt in dieser extrem belastenden Situation allein zurück.

Suizidversuch und Hilflosigkeit der Familie

Am 29. Juni eskaliert die Situation: Finn leidet an Depressionen und ist an diesem Tag schon mehrfach ausgerastet. Plötzlich verschwindet er in seinem Kinderzimmer und schließt die Tür. Als seine Großmutter ihn sucht, steht Finn auf dem Fensterbrett und will sich das Leben nehmen. Im letzten Moment greift seine Großmutter Kerstin Schiek ein, zieht ihn zurück und alarmiert den Rettungsdienst. "Immer wieder hat Finn gerufen, dass er sich umbringen will. Das war ganz schlimm", erzählt sie.

Die Sanitäter bringen Finn ins Bertha-Krankenhaus, wo aufgrund des Landesgesetzes über Hilfen bei psychischen Krankheiten eigentlich die Pflichtversorgung bei Suizidversuchen gilt. Doch Finn wird nicht stationär aufgenommen. Seine Großmutter ist fassungslos: "Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Warum nimmt diese Klinik das Kind nicht auf?"

Überlastung der Kliniken – steigende Zahlen seit Corona

Finns Fall steht beispielhaft für die immense Überlastung der Kinder- und Jugendpsychiatrien in Nordrhein-Westfalen. Seit der Corona-Pandemie sind die Anfragen und die Anzahl der psychischen Erkrankungen bei jungen Menschen stark gestiegen. Laut einer Studie der DAK-Gesundheit haben psychische Diagnosen bei Kindern und Jugendlichen um 28 Prozent zugenommen. Wartezeiten auf Therapieplätze und stationäre Aufnahmen sind heute oft deutlich länger als noch vor einigen Jahren. Viele Kliniken melden Wartezeiten von mehreren Monaten, obwohl vor der Pandemie oft noch vier bis sechs Wochen als Wartezeit üblich waren.

Auch das Bertha-Krankenhaus verweist auf diese Herausforderungen. In einer schriftlichen Stellungnahme erklärt man, dass man auf Finns speziellen Fall nicht näher eingehen könne, betont aber, dass die "Akutversorgung sichergestellt" sei. Der Vorwurf, man habe Finns Situation nicht ernst genug genommen, beantwortet das NRW- Gesundheitsministerium: "Nach ärztlicher Einschätzung bestand keine entsprechende Gefährdungslage. Eine akute Suizidalität wurde durch das medizinische Personal ausgeschlossen."

Zunehmende Aggressionen und Gefahr zu Hause

Doch die Lage zu Hause eskaliert weiter. Finn, tieftraurig und zugleich aggressiv, äußert mehrfach den Wunsch, sich das Leben zu nehmen. Eine Woche nach dem Vorfall bestätigt ein ärztliches Gutachten: "Es besteht die Gefahr, dass er sich tötet oder sich erheblichen Schaden zufügt." Trotzdem vergeht noch fast zwei Wochen, bis Finn in einer spezialisierten Klinik am Niederrhein untergebracht wird.

Rechtslage eindeutig – Klinik hätte handeln müssen

Die Familie hat mittlerweile rechtliche Schritte eingeleitet. Ihre Anwältin Heide Marie Sehr betont, dass die Rechtslage eindeutig sei: "Grundsätzlich ist eine Klinik im Notfall verpflichtet, zu helfen. Wenn sie das nicht tut, kann das rechtliche Konsequenzen haben, die über unterlassene Hilfeleistung hinausgehen." Im schlimmsten Fall könnte sogar wegen "Totschlags durch Unterlassen" ermittelt werden, sollte das Kind zu Schaden kommen.

Der Fall "Finn" wirft ein Schlaglicht auf die derzeitige Krise in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Überlastete Kliniken, lange Wartezeiten und die dramatischen Folgen der Corona-Pandemie belasten das Gesundheitssystem. Viele betroffene Familien fühlen sich im Stich gelassen. Finns Fall wird aktuell durch die Bezirksregierung und das NRW-Gesundheitsministerium aufgearbeitet. Das Gefühl der Familie bleibt: Kinder in seelischer Not werden oftmals nicht ausreichend versorgt.

Hier gibt es Hilfe bei Suizidgedanken

  • Die Telefonseelsorge ist unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 sowie 116 123 rund um die Uhr erreichbar. Sie berät kostenfrei und in jeder Hinsicht anonym. Die Telefonseelsorge bietet auch einen Chat und eine E-Mail-Beratung an, ebenfalls anonym.

  • Das muslimische Seelsorgetelefon ist kostenfrei und anonym unter der Rufnummer 030/44 35 09 821 rund um die Uhr erreichbar.

  • Das Hilfetelefon Opfer von häuslicher Gewalt ist anonym, kostenfrei und rund um die Uhr unter 08000 116 016 erreichbar.

  • Der Weiße Ring bietet ebenfalls einen anonymen Telefondienst unter 116 006 sowie eine Online-Beratung.
  • Darüber hinaus hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) zahlreiche Informationen zu Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und sozialpsychiatrischen Diensten aufgelistet, an die sich Suizidgefährdete und Angehörige wenden können, um Hilfe zu erhalten.

Unsere Quellen:

  • Familie des Jungen
  • Bertha-Krankenhaus
  • NRW-Gesundheitsministerium
  • DAK Gesundheit

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