Eine Jugendliche sitzt mit gesenktem Kopf auf einer Treppe, sie trägt eine Kaputze.

Suizid unter Jugendlichen: Neun Antworten von einem Kinderpsychiater

Münster | Verbrechen

Stand: 25.09.2023, 12:49 Uhr

War es eine Tötung im Auftrag des Teufels? Ein Suizid? Oder doch jugendlicher Leichtsinn? Diese Frage beschäftigte Lüdinghausen und das Landgericht Münster im Oktober 1987. Etwa eineinhalb Jahre zuvor starb ein 15-jähriges Mädchen in einem Waldstück. Ihre Pulsadern waren aufgeschnitten, am Hals klaffte eine weitere Wunde. Was war passiert?

Von Hamzi Ismail

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Der Fall

Im Mittelpunkt des Geschehens standen sie: Der 16-jährige Robert und die 14-jährige Eva (alle Namen im Text wurden von der Redaktion geändert). Sie sind ein Paar, ihre Freizeit verbringen sie meist zusammen. Während Eva eher introvertiert ist, tritt Robert gerne dominant und wortgewandt auf. Er hört Heavy Metal Musik und interessiert sich für Okkulte und regionale Mythen.

Junges Paar veranstaltet "schwarze Messen"

Eines Tages hat er eine Vision, in der Luzifer ihm befiehlt, eine Gruppe aus sechs Personen zu gründen, die im Auftrag Satans das "Gute" in der Welt bekämpfen solle. Robert findet neben seiner Freundin Eva weitere Freunde, die gemeinsam mit dem Paar regelmäßig "schwarze Messen" veranstalten, bei denen sie im Kreis sitzend, eine Kerze anzünden und Danksagungen an Luzifer richten. (Weitere Informationen zum Satanismus gibt es hier.)

In einer zweiten Vision fordert Satan den selbsternannten Anführer der "Luzifikaner-Gruppe" Robert auf, er solle "zum Vater kommen", sich also selbst töten. Als seine stark depressive Freundin Eva ihm von ihren Suizidabsichten berichtet, weil sie seit längerer Zeit erhebliche Probleme mit ihrer Mutter habe und keinen Ausweg mehr als den Freitod sehe, nutzt Robert die Gelegenheit und schließt sich Eva an. 

15-Jährige mit Messer getötet

Sie betäuben sich mit Wermut und Schlaftabletten, um vom geplanten Suizid nicht viel zu spüren. Auf dem Weg in ein Waldstück bei Lüdinghausen treffen sie auf ihre Schulfreundin Anna. Die 15-Jährige weint und berichtet von ihrer nicht erwiderten Liebe für einen gemeinsamen Freund.

Ihr Liebeskummer scheint so stark zu sein, dass Anna sich dem Selbsttötungsplan von Robert und Eva spontan anschließt. Sie trinkt vom Wermut und schluckt Schlaftabletten, kurze Zeit später schläft sie ein. Robert fängt daher bei Anna an: Er nimmt ein mitgebrachtes Messer und schneidet Anna die Pulsadern auf. Er versetzt ihr auch einen Schnitt in den Hals. Weil sie stark röchelt und Robert dieses Geräusch nicht erträgt, würgt er sie, um den eintretenden Tod zu beschleunigen.

Im Anschluss setzt er das Messer an Evas Handgelenk, doch nach einem leichten Schnitt zuckt sie zurück, der Schmerz ist zu groß. Dies wiederholt Robert drei weitere Male, immer wieder zieht Eva ihre Hand zurück. Die Situation ernüchtert das Paar, sie entscheiden sich um und geben ihren Suizidplan auf. Da Robert bei Anna keinen Puls mehr feststellen kann, flieht er mit Eva aus dem Wald. 

Junges Paar wird verurteilt

Am Tag darauf nimmt die Polizei das Liebespaar fest, sie werden vor das Münsteraner Jugendgericht gestellt. Dort bestreiten sie nicht, Anna getötet zu haben, doch es sei kein Ritualmord im Auftrag des Teufels gewesen, sondern sie haben ihre Freundin auf deren eigenen Wunsch hin umgebracht.

Nach mehreren Verhandlungstagen und Vernehmungen dutzender Zeugen und psychologischer Sachverständigen spricht das Gericht das Urteil: Robert und Eva werden wegen "gemeinschaftlicher Tötung auf Verlangen" verurteilt, Anzeichen für einen Ritualmord habe die Verhandlung nicht ergeben, hieß es.

Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe

Wer Suizidgedanken hat, dreht sich dabei innerlich meist im Kreis. Dadurch wirkt die Situation festgefahren, der Teufelskreis lässt sich aber durchbrechen. Anonyme und kostenlose Hilfe finden Betroffene zum Beispiel bei der Telefonseelsorge unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 sowie 116 123. Per Chat bietet die Telefonseelsorge auf dieser Webseite Unterstützung. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention listet hier Beratungsstellen für persönliche Gespräche auf.

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Interview: Was bringt einen jungen Menschen zu Suizidgedanken?

Unser Autor Hamzi Ismail hat sich für unser TrueCrime-Format "Lokalzeit MordOrte" intensiv in diesen besonderen Kriminalfall eingearbeitet. Da es darin stark um das Thema "Suizid unter Jugendlichen" ging, hat er für Lokalzeit.de darüber mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Georg Romer gesprochen. 

1. Lokalzeit: Was bringt einen jungen Menschen dazu, sich umbringen zu wollen?

Georg Romer: Wir unterscheiden zwischen ernsthafter Selbsttötungsabsicht und Suizidversuchen, wobei die Grenzen fließend sind. Letztere sind immer existentielle Hilferufe eines jungen Menschen an die Umwelt, eine nicht aushaltbare innere Not ernst zu nehmen.

Bei ernster Selbsttötungsabsicht hat sich daraus ein existentielles Gefühl von Ausweglosigkeit verfestigt, wobei es oft kurz vor dem tödlichen Schritt noch zu einem Rückzieher kommen kann zum Beispiel in Form einer Geste, die eine Rettung in letzter Minute ermöglicht. 

2. Lokalzeit: Wie kann das sein? 

Romer: Dahinter stecken - von psychischen Erkrankungen wie einer unbehandelten schweren Depression oder Schizophrenie - meist zugespitzte Krisen, die als existentiell bedrohlich oder als massive Verletzung beziehungsweise Kränkung empfunden werden.

Georg Romer, Kinder- und Jugendpsychiater

Prof. Dr. med. Georg Romer, Kinder- und Jugendpsychiater

Das zieht dem Menschen den Boden unter den Füßen weg, oft kommt noch die Not hinzu, sich niemandem anvertrauen zu können. In der Vorgeschichte sind beispielsweise wiederholte Mobbing-Erfahrungen sowie Erfahrungen mit seelischer Gewalt oder sexuellem Missbrauch nicht selten. 

3. Lokalzeit: Wie hat sich die Zahl suizidaler Jugendliche in den letzten Jahrzehnten entwickelt und haben sich die Gründe für diese Gefühle junger Menschen über die Zeit verändert?

Romer: Suizidversuche werden nicht systematisch registriert, daher sind mir dazu keine Zahlen bekannt. Da die Gründe individuell und vielfältig sind, kann ich auch keine Veränderungstrends erkennen. Es gibt aber sehr wohl Auslöser, die wir vor 20 Jahren so noch nicht kannten, wie etwa Cybermobbing unter Jugendlichen, mit öffentlicher Beschämung durch in WhatsApp gepostete Nacktfotos oder ähnliches.

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Wie kann man den Jugendlichen helfen?

4. Lokalzeit: Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit/Klinik mit Jugendlichen um, die sich umbringen wollen?

Romer: Zunächst begegnen wir diesen Jugendlichen mit einer offenen Haltung und versuchen ihnen Auswege aufzuzeigen. Als Psychiater muss man in der Lage sein, gemeinsam mit dem Menschen, der Suizidgedanken hat, in den Abgrund zu blicken und dafür passende Worte zu finden.

Darüber reden hilft. Es gibt keine innere Not, und wenn sie sich noch so ausweglos anfühlen mag, die nicht besprechbar und damit teilbar und verstehbar werden kann. Wenn dies gelingt, lässt sich meist eine Absprache verhandeln.

5. Lokalzeit: Was meinen Sie mit "Absprache verhandeln"?

Romer: Der junge Mensch sagt zu, sich auf eine professionelle Begleitung in seiner belasteten Situation einzulassen und versichert, sich für einen befristeten Zeitraum nichts anzutun. Hier gilt dann per Handschlag Vertrauen gegen Vertrauen.

Wenn die Not, die den jungen Menschen in die zugespitzte Krise geführt hat, einmal gut besprechbar geworden ist, erleben wir oft, dass es in der Therapie nicht mehr um Suizidalität gehen muss, dafür aber andere Themen offengelegt werden. Dann gilt es am Ball zu bleiben, damit sich die suizidale Krise nicht wiederholt.

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Welche Rolle spielt die Pubertät?

6. Lokalzeit: Inwieweit spielt dabei die Pubertät eines jungen Menschen und damit einhergehende emotionale Schwankungen eine Rolle?

Romer: In der Pubertät sind Heranwachsende besonders instabil und sensibel. Da können krisenhafte Situationen besonders leicht dazu führen, dass sich eine innere Not ausweglos anfühlt. Die Konzentration auf das emotionale Erleben im Hier um Jetzt, in Verbindung mit besonders intensiven Ausschlägen heftiger Gefühle kann eher kopflose Kurzschlusshandlungen begünstigen.

Erwachsene, die schon manche Krise durchlitten haben, verlieren weniger schnell die Zuversicht gegenüber dem Leben komplett und neigen weniger zu Impulshandlungen.

7. Lokalzeit: Haben Merkmale wie das Geschlecht, Bildungsgrad oder auch die soziale Herkunft einen Einfluss auf Suizid-Absichten von Jugendlichen?

Romer: Suizidversuche sind bei Mädchen häufiger, vollendete Suizide bei jungen Männern. Was Unterschiede bezüglich Bildung oder sozialer Herkunft betrifft, ist mir nichts bekannt. Weitere Faktoren, die eine Suizidgefahr begünstigen, wie zum Beispiel vererbte oder genetisch bedingte Veranlagungen sowie innerfamiliäre Gewalt, kommen in allen sozialen Schichten vor. 

8. Lokalzeit: Auf welche Anzeichen beim suizidgefährdeten Jugendlichen können die Familie und das Umfeld achten, um rechtzeitig genug helfen zu können?

Romer: Es lassen sich verschiedene Alarmzeichen beobachten, auf die man achten kann. Suizidgefährdete Menschen ziehen sich oft aus sozialen Kontakten zurück, schotten sich ab, wirken einsam und freudlos. Es mag sein, dass sie zwar nach außen hin lächeln, das erscheint aber eher wie eine unbelebte Fassade.

9. Lokalzeit: Wohin kann sich ein junger Mensch mit Selbsttötungsabsichten beziehungsweise Freunde und Angehörige von Betroffenen wenden, um Hilfe zu erhalten? 

Romer: Sowohl Betroffene als auch ihr Umfeld können sich beispielsweise an psychotherapeutische Praxen wenden. Wenn es auf Leben und Tod geht, darf es keine Wartezeit geben. Niedergelassene Psychotherapeuten müssen regelmäßig offene Sprechstunden ohne Termin anbieten, zumindest für ein kurzfristig anberaumtes Gespräch, bei dem die Situation sondiert werden kann, um zu entscheiden, wie dringlich die Not ist.

Für jede Wohnadresse in Deutschland gibt es zudem eine zuständige Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die 24/7 eine ambulante Notfallsprechstunde anbietet.