Symbolfoto: ein depressiver Mann bedeckt sein Gesicht mit den Händen

Psychotherapie: Lange Wartezeiten bis zu einem Therapieplatz

Stand: 20.07.2022, 15:46 Uhr

Wer psychische Probleme hat, muss in Deutschland im Schnitt knapp fünf Monate auf einen Therapieplatz warten - in NRW sogar noch länger. Was heißt das für Betroffene? Warum dauert es so lange? Und wie kann die Politik das Problem lösen?

Von Lisa Jülich und Judith Bräuniger

Manuel, 26, hat längst erkannt, dass es so nicht weitergehen kann. Der Solinger verspürt keine Freude mehr, nichts macht ihm mehr Spaß. Nach außen funktioniert er. Innerlich fühlt er sich tot. Manuel weiß, dass er Hilfe braucht. Er ist auch bereit, danach zu fragen. Der Griff zum Telefon ist aber unglaublich schwer.

"Das klingt für Außenstehende total absurd", sagt er. "Man will zwar irgendwie, dass einem das Leid abgenommen wird, dass man Hilfe bekommt. Aber den Aufwand, das Handy zu nehmen, den bewältigt man einfach nicht."

Manuel weiß: "So geht es nicht weiter."

Manuel weiß: "So geht es nicht weiter."

Manchmal schafft er es doch. Dann ruft er bei einer Psychotherapiepraxis an, erzählt einer fremden Stimme, wie es ihm geht, was bei ihm los ist. Dann fragt er nach einem Therapieplatz und bekommt: eine Absage. Eine nach der anderen.

In NRW wartet man besonders lange auf einen Therapieplatz

Rund 43 Prozent der Erwachsenen in Deutschland leiden laut der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV) einmal in ihrem Leben an einer psychischen Erkrankung. Tendenz steigend. Verschiedene Studien belegen: Seit der Pandemie haben psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen, Stresssymptome, Einsamkeitsgefühle, Essstörungen und Schlafprobleme zugenommen.

Eine Folge davon: längere Wartezeiten. Laut Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) warten Betroffene im Schnitt mehr als fünf Wochen auf ein sogenanntes psychotherapeutisches Erstgespräch. Seit 2017 sind Psychotherapeutinnen und -therapeuten dazu verpflichtet, ein solches anzubieten. Patientinnen und Patienten sollen dadurch schneller abklären lassen können, ob sie eine Therapie brauchen.

"Spätestens nach dem dritten Anruf denkt man sich: Es hat eigentlich eh keinen Sinn, dann lasse ich es lieber." Manuel, 26, bis heute ohne Therapieplatz

Doch ein Erstgespräch ist noch lange keine Garantie für einen Therapieplatz. Laut BPtK warten 40 Prozent der Betroffenen nach ihrem psychotherapeutischen Erstgespräch drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung. Im Schnitt sind es bundesweit 19,9 Wochen, fast fünf Monate.

Dabei gibt regionale Unterschiede. Vergleicht man die Wartezeiten unter den Bundesländern, zeigt sich: In NRW wartet man besonders lang auf einen festen Therapieplatz - im Schnitt 23,1 Wochen oder fast sechs Monate.

Es fehlt nicht an Therapeuten, sondern an Therapeuten mit Kassensitz

Die langen Wartezeiten sind ein Problem. Denn mit der Wartezeit steigt auch das Risiko, dass sich psychische Erkrankungen verschlimmern, verlängern oder immer wiederkehren, mahnt die Bundespsychotherapeutenkammer. Mit zunehmender Wartezeit steigt zudem der Anteil der Menschen, die die Therapieplatzsuche wieder aufgeben.

Auch Manuel stand kurz davor. Er sagt: "Spätestens nach dem dritten Anruf denkt man sich: Es hat eigentlich eh keinen Sinn, dann lasse ich es lieber. Man befindet sich dann in einer Spirale, die sich immer weiter nach unten dreht. Irgendwann ist man an dem Punkt, es mit sich selbst ausmachen zu wollen."

Manuel hat auf ein Erstgespräch zwei Monate warten müssen und dabei 15 Absagen kassiert. Jedes Mal hat er in etwa dasselbe zu hören bekommen: "Ich bin voll ausgebucht. Ich habe leider keinen freien Platz." Manche Therapeutinnen und Therapeuten führen eine Warteliste. Andere sogar Wartelisten für die Warteliste. Manche bieten auch das nicht an.

Bei Therapeutin Nummer 16 hat Manuel ein Erstgespräch bekommen. Sie diagnostiziert: Manuel hat eine affektive bipolare Störung. Im Volksmund würde man sagen, er ist manisch-depressiv. Einen festen Therapieplatz hat er trotzdem noch nicht.

Die "Bedarfsplanung" orientiert sich laut BPtK nicht am tatsächlichen Bedarf

Laut Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) liegt das Problem nicht etwa darin, dass es in Deutschland zu wenig Psychotherapeut:innen gibt. Problematisch sei eher, dass es zu wenig Kassensitze gibt. Sprich: zu wenig Psychotherapeut:innen, die eine Kassenzulassung bekommen, um ihre Leistungen mit den Krankenkassen abrechnen zu können.

Wie viele Kassensitze es in einer Stadt oder einer Region gibt, das wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in der sogenannten "Bedarfsplanung" festgelegt. Der G-BA ist das höchste Gremium im deutschen Gesundheitswesen; er entscheidet, welche Leistungen von den Gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Die Politik kann nur Rahmenbedingungen setzen.

Gemeinsamer Bundesausschuss

Die Bedarfsplanung für psychotherapeutische Kassensitze wurde 1999 eingeführt, als Psychotherapie in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen wurde. Der Bedarf wurde damals jedoch nicht im eigentlichen Sinne "berechnet".

Als "Bedarf" festgesetzt wurde die Anzahl der Psychotherapeut:innen, die damals einen Kassensitz bekamen. Seitdem wird von "Vollversorgung" gesprochen, wenn diese vorhandenen Kassensitze besetzt sind.

Ausgehend von dieser Berechnung sind aktuell nahezu alle Städte und Regionen in NRW überversorgt. Ein Beispiel: In Essen kommen auf 100.000 Einwohner 23,8 Psychotherapeut:innen. Laut Kassenärztlicher Vereinigung Nordrhein wäre damit ein Versorgungsgrad von 121 Prozent erreicht.

Die Bedarfsplanung, wie sie der G-BA vorgibt, bilde aber nicht den eigentlichen Bedarf ab, was sich nicht zuletzt an den langen Wartezeiten zeige, argumentiert die Bundestherapeutenkammer.

Gutachter empfahlen schon 2019 die Einrichtung von weiteren 1.600 Kassensitzen

Der G-BA und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen betonen, dass stetig neue Kassensitze eigerichtet würden und bei der Bedarfsplanung soziale und gesellschaftliche Entwicklungen mit einbezogen würden. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung schließt sich an und erklärt, dass neue Kassensitze und Angebote wie die psychotherapeutische Sprechstunde ihre Wirkung erst noch entfalten müssten. "Dafür braucht es immer ein wenig Zeit", heißt es in einer Stellungnahme.

2019 hat der G-BA selbst ein Gutachten in Auftrag gegeben, um den Bedarf an Psychotherapieplätzen zu überprüfen. Die Gutachter empfahlen die Einrichtung von bis zu 2.400 zusätzlichen Kassensitzen für Psychotherapeut:innen. Ermöglicht hat der G-BA 2019 allerdings nur 800 zusätzliche Sitze.

Er argumentierte mit eigenen Modellrechnungen, die einen deutlich geringeren Bedarf vorsahen. Von einem Mangel an Kassensitzen gehen die Beteiligten nicht aus.

Die Bundespsychotherapeutenkammer, die rund 55.000 Psychologische Psychotherapeut:innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen in Deutschland vertritt, kritisiert das schon lange. Sie fordert, die noch fehlenden 1.600 Sitze zeitnah zu schaffen. Seit der Corona-Pandemie mit noch größerem Nachdruck.

Der Therapieplatzmangel belastet auch die Therapeuten

Der Mangel an Therapieplätzen ist nicht nur für die Menschen eine Belastung, die einen Therapieplatz suchen, sondern auch für die, die eigentlich gerne helfen möchten: die Psychotherapeut:innen.

"Ich habe bei vielen Fällen das Gefühl, wenn ich jetzt intervenieren könnte, könnte ich wirklich etwas bewirken. Aber dafür bräuchte es eben diese schnelle Kapazität und die gibt es nicht." Psychotherapeut Niklas Lottes

Lottes ist 31 Jahre alt und hat seit gut einem Jahr einen eigenen Kassensitz als Psychotherapeut in Köln. Zwei Jahre lang hat er danach gesucht und ihn dann gekauft - nicht unüblich in der Branche. Unüblich aber ist, dass ihm das schon so früh in der Karriere gelungen ist.

Niklas Lottes

Niklas Lottes, Psychotherapeut mit Kassensitz in Köln.

"Ich kenne eigentlich keinen im Kölner Raum, bei dem das so schnell funktioniert hat", sagt Lottes. Deshalb hat er gemeinsam mit jungen Kolleginnen und Kollegen eine Petition gestartet, in der sie fairere Bedingungen bei der Vergabe von Kassensitzen fordern und an die Verantwortlichen appellieren, generell mehr Kassensitze zu schaffen.

Die neue Bundesregierung scheint das Problem erkannt zu haben - passiert ist aber nichts

Derzeit läuft Vieles auf eine Reform der Bedarfsplanung als Lösung hinaus. Im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist eine solche zumindest vorgesehen: "Wir reformieren die psychotherapeutische Bedarfsplanung, um Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten deutlich zu reduzieren." (Koalitionsvertrag, S. 87)

Ein erster wichtiger Schritt, findet BPtk-Präsident Dietrich Munz. Die Bundesregierung habe die Notwendigkeit zumindest erkannt. Auch Interessensvertreter wie die Deutsche Depressionsliga begrüßen den Schritt und fordern, dass auf die Ankündigung auch schnell Taten folgen. Passiert ist das bisher aber nicht.

Diese Tipps helfen bei der Suche nach einem Therapieplatz

Manuel aus Solingen hat im 16. Anlauf zumindest ein Erstgespräch mit einer Therapeutin bekommen. Den Kontakt hat er über die Vermittlung der Kassenärztlichen Vereinigung unter der Nummer 116 117 bekommen. Gespräche mit Betroffenen zeigen aber: Das klappt auch nicht immer und ist auch je nach Wohnort unterschiedlich gut.

Mühselig, aber durchaus lohnenswert ist es, die Therapiepraxen in der Umgebung abzutelefonieren, die man nicht über eine Suche im Netz findet. Denn nicht alle Psychotherapeuten haben einen Online-Auftritt. Dies ist mitunter eine bewusste Entscheidung angesichts der riesigen Nachfrage. Eine Liste der Praxen in der Umgebung findet man bei der Psychotherapeutenvereinigung und bei der Psychotherapiesuche des Psychotherapie-Informationsdienstes.

Auch Gruppentherapien können eine Lösung sein. Viele Therapeuten bieten das an und haben immer mal wieder freie Plätze. Gruppentherapien im Umkreis kann man beispielsweise hier finden: gruppenplatz.de

Weitere wichtige Nummern für akute Fälle von psychischen Krisen

  • Info-Telefon Depression: 0800-3344-533
  • Nummer gegen Kummer: 116111
  • Telefon-Seelsorge: 0800-1110111
  • In Notfällen: 112

Dienste wie zum Beispiel die Telefon-Seelsorge bieten auch Apps und Chats an, wenn man nicht telefonieren möchte.

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