75 Jahre Nato
02:51 Min.. Verfügbar bis 04.04.2026.
Carlo Masala im Interview: "Die NATO ist wieder da, wo sie begonnen hat"
Stand: 04.04.2024, 12:19 Uhr
Die NATO wird 75 Jahre alt. Vor welchen Herausforderungen steht das nordatlantische Verteidigungsbündnis heute? Antworten des Politikwissenschaftlers Carlo Masala.
Die zu Beginn des Kalten Krieges gegründete NATO hat sich über die Jahrzehnte zum größten Militärbündnis der Welt entwickelt. Am Donnerstag feiert die transatlantische Allianz in Brüssel ihr 75-jähriges Bestehen.
Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in München
Die Gründung fand am 4. April 1949 in Washington statt: Zehn westeuropäische Länder sowie die USA und Kanada schlossen sich zur NATO zusammen, um der Bedrohung durch die Sowjetunion zu begegnen. Die Staaten verpflichteten sich im Nordatlantikvertrag zum gegenseitigen Beistand im Falle eines Angriffs, dem "Bündnisfall". Professor Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Bundeswehr-Universität in München, zieht im WDR-Interview Bilanz und blickt auf die Zukunft des Bündnisses.
WDR: Herr Professor Masala, können sich die Vertreter der 32 NATO-Staaten bei ihrem heutigen Treffen zum 75. Jahrestag des Bündnisses auf die Schulter klopfen?
Carlo Masala: Wenn man die NATO historisch betrachtet, dann gibt es durchaus Anlass, sich jetzt selbst zu beglückwünschen. Das war eine Allianz, die primär gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten gegründet wurde. Sie ist ab den 1990-Jahren auch relativ stabil durch eine Sinnkrise gegangen - nämlich bei der Frage: Wenn jetzt der Hauptgegner weg ist, wozu braucht es noch ein militärisches Bündnis?
Und jetzt ist die NATO wieder dort, wo sie mal begonnen hat: in der Abwehr einer russischen Gefahr. Von 1949 bis heute kann man trotz aller Krisen sagen, die Nato hat eine Erfolgsgeschichte.
WDR: Viele sagen, die NATO sei selbst schuld: Hätte sie ihr Versprechen gehalten, sich nicht nach Osten auszudehnen, da wäre es nie zu dieser Situation gekommen. Was sagen Sie dazu?
Gorbatschow und Kohl unterzeichnen im Juni 1989 einen Freundschaftsvertrag
Masala: Das ist ein Mythos. Es gab dieses Versprechen ja nie. Das ist eine von Russland in die Welt gesetzte Propaganda, die darauf basiert, dass es in der Tat bei einem Gespräch zwischen US-Außenminister James Baker und Michael Gorbatschow mal ventiliert wurde. Auch Hans-Dietrich Genscher, der deutsche Außenminister, hat das im Februar 1990 in seinen Gesprächen mit dem damaligen sowjetischen Außenminister mal aufgegriffen.
Aber diese Idee ist sofort von George Bush, also von Bush senior, und Helmut Kohl ad acta gelegt worden. Beide wollten ein solches Versprechen nie und diese Frage offen lassen. Es gab dieses Versprechen nicht.
WDR: Falls im November Donald Trump wiedergewählt werden sollte, dann wissen wir, was er von den NATO-Ländern will: Jedes Land soll zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aufbringen. Hätte er weitere Ansprüche an das Bündnis? Was glauben Sie?
Masala: Er hat sich ja bereits dahingehend geäußert, dass er am Bündnis festhalten werde, wenn die Europäer die USA fair behandeln würden. Aus Trumps Sicht heißt "fair behandeln", wenn die Europäer mehr Geld für ihre Verteidigung, für die gemeinsamen Aufgaben der NATO aufwenden würden. Da reden wir nicht über zwei Prozent, sondern wir reden über mehr, die Trump einfordern könnte.
WDR: Was wäre denn, wenn sich die USA mehr aus ihrer Schutzfunktion zurückziehen würden? Das wäre ja auch denkbar, wenn Joe Biden weitermacht. Auch da gibt es ja gewisse Forderungen an Europa.
Donald Trump und Joe Biden
Masala: Ja, das ist in der Tat richtig. Egal, ob Trump gewählt wird oder Biden Präsident bleibt: Es ist klar, dass Europa für seine Verteidigung mehr aufwenden muss. Der Unterschied ist nur: Wenn ein Präsident Trump den Europäern die nukleare Schutzgarantie entziehen würde, dann würde ein entscheidendes Element der Abschreckung gegenüber Russland fehlen.
Das würde viele Europäer nuklear erpressbar machen durch die Russische Föderation. Das ist eine Entwicklung, die wäre verhängnisvoll für die europäische Sicherheit und Stabilität.
WDR: Würden Sie denn so weit gehen und sagen, die größte Bedrohung für die NATO und auch für Europa könnte im Weißen Haus liegen?
Masala: Nein, die größte Bedrohung für die NATO und Westeuropa liegt momentan im neoimperialistischen Russland. Aber diese Bedrohung abzuwehren, dafür sind die Vereinigten Staaten ein entscheidender Akteur. Wenn die Amerikaner das nicht mehr wollen, wird es für die Europäer extrem schwierig, genügend Fähigkeiten zusammenzubekommen, um nur unter Rückgriff auf eigene Mittel diese neoimperialistische Gefahr durch Russland auszubalancieren und einzudämmen.
Das Interview führte Andrea Oster im WDR 5 Morgenecho. Es wurde für die schriftliche Fassung sprachlich geglättet. Als Quelle für den Einstieg wurde die AFP genutzt.