Kunst aus Prismen: Zum Tod von Mary Bauermeister

Stand: 02.03.2023, 15:15 Uhr

In Mary Bauermeisters Kölner Atelier versammelte sich in den 60er Jahren die damalige Avantgarde. Eine Künstlerin, die mit ihren Linsenkästen, Prismen und Steinspiralen vor allem in den USA für Furore sorgte. Nun ist die "Mutter des Fluxus" im Alter von 88 Jahren gestorben.

Von Thomas Köster

In den 1960er Jahren entdeckt Mary Bauermeister bei einem Antiquitätenhändler in New York zufällig ein Konvolut von Linsen. Sie klebt die optischen Objekte auf Glas und setzt Kästen mit Fundstücken, Tuschezeichnungen und Wörtern dahinter.

Die geheimnisvollen "Linsenkästen", die das Licht brechen und ihren Inhalt je nach Blickwinkel verändern, machen sie in den USA berühmt. Und sie sind symptomatisch für das multiperspektivische Denken der Künstlerin, das nie bei einer Sicht der Dinge stehen blieb.

Zum Tod der Fluxus-Künstlerin Mary Bauermeister

Von Thomas Köster

Mary Bauermeister galt als Mutter der Fluxus-Bewegung. Vor allem aber war sie eine große Künstlerin. Jetzt ist sie mit 88 Jahren gestorben. Autor und Fotograf Thomas Köster hat sie einige Jahre vor ihrem Tod in ihrem Atelier-Garten in Rösrath besucht.

Mary Bauermeister

Ein wenig sei ihre Arbeit wie das Werk von Insekten, sagte Mary Bauermeister: "Zwar mache ich keine Ameisenhügel oder Bienenwaben, sondern Kunst. Aber das hat auch viel mit Nestbau zu tun." In diesem Sinn hatte sich die Künstlerin nach Stationen in Köln und New York in Rösrath-Forsbach ein Nest gebaut. Und mit Bildern und Objekten ausstaffiert.

Ein wenig sei ihre Arbeit wie das Werk von Insekten, sagte Mary Bauermeister: "Zwar mache ich keine Ameisenhügel oder Bienenwaben, sondern Kunst. Aber das hat auch viel mit Nestbau zu tun." In diesem Sinn hatte sich die Künstlerin nach Stationen in Köln und New York in Rösrath-Forsbach ein Nest gebaut. Und mit Bildern und Objekten ausstaffiert.

Ende der 60er Jahre ließ Bauermeister das lichte Gebäude bauen, vier Kinder zog sie hier alleine groß. Zwei sind von ihrer großen Liebe Karlheinz Stockhausen, mit dem sie 14 Jahre lang zusammengelebt hat: zunächst in einer von Doris Stockhausen komplettierten Ménage à Trois, von 1967 bis zur Scheidung 1973 als Ehefrau.

Architekt Erich Schneider-Wessling hatte das Atelierhaus ursprünglich vollkommen offen konzipiert. "Meine Kinder wollten dann für ihre Zimmer Türen." Als die Kinder ausgezogen waren, habe sie "die Räume selbst gefüllt". Mit eigener Kunst wie ihren Phosphor- und Strohhalmbildern - und mit sammelndem Bienenfleiß, quer durch die Kulturen.

Herausgekommen ist eine individuelle Wunderkammer, die assoziativ-strukturierenden Mustern folgt und fast wie ein persönliches Museum wirkt. Tatsächlich hat sich Bauermeister mit Dingen umgeben, die ihr wichtig sind. Und gefallen, sinnlich und geistig aufbauend wirken. Denn: "Kunst darf wieder schön sein."

Das Schöne fand Bauermeister aber nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Natur. "Das sind für mich aber ohnehin dieselben Dinge", wie sie sagte. "Das sind meine beiden Kraftquellen. Horte der Glückseligkeit. Wenn ich krank bin, muss ich arbeiten, in der Kunst, in der Natur. Dann werde ich gesund."

Kunst als verlängerter Arm der Natur: Nirgends wurde dies eindrücklicher als in Bauermeisters dreidimensionalen Steinbildern. Ihr vielleicht schönstes hing im "Wohnzimmer". An Museen ausgeliehen wird es nicht mehr. "Viel zu schwer. Und dann geht ständig beim Transport etwas kaputt. Dann muss man rätseln, wo die abgefallenen Steine hingehören."

"Meine Werke sind Tagebücher meines Weltverstehens, meines Welterlebens", sagte Bauermeister. Insofern war das glasgeprägte Haus der ungemein sprachgewandten und wachen Künstlerin eine Art Bücherschrank ihrer immer weiter fortzuschreibenden Biografie. Und tatsächlich barg es Erinnerungen an fast alle Phasen ihres Lebens.

Etwa an Köln, wo ihr Atelier 1960/61 mit "Prä-Fluxus-Veranstaltungen" Treffpunkt von Joseph Beuys, John Cage, Otto Piene oder Nam June Paik war. Oder Stockhausen, links im Bild. Es zeigt eine Aufführung von Stockhausens Komposition "Kontakte", an der Bauermeister beteiligt war. "Ich war seine Muse", schreibt sie in ihrer Autobiografie, "und er mein Muserich".

"Paik mochte ich besonders gern", sagte Bauermeister. "Der hatte so etwas Asiatisch-Friedliches. Und einen Humor, den ich grandios finde." Ein wundervolles Spruchbeispiel stand auf dem Klavier: "When too perfect / lieber Gott böse". Die Paik-Arbeit im Bild war ein Geschenk, Paiks Kölner Studienbuch gehört zu Bauermeisters Archiv.

"Die Kölner Zeit mit den Multimedia-Aufführungen in meinem Atelier war für die Kunstgeschichte spannend", so Bauermeister. "Wenn ich da geblieben wäre, wäre ich Kunstorganisator geworden und heute vielleicht Kultusminister a.D."

Wichtig war Bauermeister vor allem New York, wohin sie 1962 ging, um "mit meiner eigenen Arbeit weiterzukommen". Das seien die spannendsten Jahre gewesen, sagte Bauermeister, mit Freundschaften zu Jasper Johns oder Niki de Saint Phalle: "Eine inspirierende Atmosphäre, es gab noch kein Geld, unsere bewusstseinserweiternde Droge war der Hunger." Der Kruzifixstuhl stammt aus dieser "wunderschönen Zeit".

Tagebücher waren vor allem Bauermeisters Linsenkästen, die typisch sind für ihr Werk, mit denen das Geld kam und sie international berühmt geworden ist. "Da schaue ich hinein und sehe und lese ein wenig darin herum. Und dann sage ich: Hach, das war die Phase, das war der Punkt, wo man damals gesteckt hat im Leben."

Dann schaute das Leben aus den Linsenkästen zurück: "Das Leben ist ja viel vieldeutiger als wir denken. Das habe ich ein bisschen versucht in diesen Kästen." Auf die Idee sei sie gekommen, als sie bei einem Antiquitätenhändler in Amsterdam die Uhrengläser eines Uhrmachers erstand. "Die Entdeckerfreude, die ich beim Spiel mit diesen Gläsern empfand, will ich an die Betrachter meiner Kästen weitergeben."

"Für mich ist schön, wenn ich Dinge, auch meine eigene Kunst, relativieren kann", sagte Bauermeister. "Wenn ich Linse über Linse schichte und die eine vergrößert etwas, und die andere stellt es auf den Kopf. Alles, was festgelegt ist, ist für mich Staub und Tod. Dinge sind aber in Bewegung." So wie bei dieser Linsen-Steine-Formation in einem Holzhaus in Bauermeisters Garten.

Überhaupt: Der Garten. Immer mehr Land hatte Bauermeister über die Jahre hinzugekauft, kleine Häuschen und Zirkuswagen hineingestellt. Hier wohnten früher andere Künstler. Inzwischen eher Bücher, verborgen hinter weißem Tuch, wie im Haus. Aus ästhetischen Gründen: "Wenn ich ein Bild habe, wo ein kleiner roter Punkt ist, und daneben ist eine Gesamtausgabe von Sartre in pink - das geht nicht!"

"Ich bin ein absoluter Buchmensch", sagte Bauermeister. "Ich schaue nicht Fernsehen, ich gehe selten ins Kino. Ich lese." Irgendwann, als das Haus aus allen Nähten zu platzen drohte, habe sie die Literatur ausgelagert: "Erst die Philosophie, dann den Garten, die Ökonomie, die Ökologie." Jeder Zirkuswagen hatte ein Thema, bei dem Bücher auf fremde und eigene Werke trafen. Thema hier: die Heilkunst.

Als die Kinder noch im Haus lebten, gehörten auch noch Tiere zum Anwesen. Kaninchen zum Beispiel. Bienen. Und Ziegen. Von letzteren zeugte nur noch ein leerer Stall. Und die Hörner auf Bauermeisters Kultstätte. "Antennen", wie die Künstlerin sagte. Wohl zu einem anderen Dasein.

Die geheimnisvollste Architektur im Garten war aber zweifellos der Wohnturm, den Bauermeister um eine Treppe aus dem abgerissenen Haus ihrer verstorbenen Schwester herumgebaut hatte. "Eigentlich wollte ich eine Himmelsleiter bauen", sagte die Künstlerin. Aber dann habe das Gestell mit seinen Stützbalken so unfragil ausgesehen, "dass ich es lieber eingekleidet habe“.

Drinnen war der Turm mit Kleidern und Steinen Bauermeisters vollgehangen. Und mit Kästen präparierter Insekten, die die Künstlerin wegen ihrer Schönheit auf Mineralienmessen erstand, wegen des Morbiden aber nicht im Haus haben wollte. Am oberen Ende der Treppe wartete eine Hängematte mit Ausblick über das ganze Terrain.

"Ich gehe sehr sparsam mit Farbe um in meiner Kunst", sagte Bauermeister. Abends wurde es dann doch bunt auf ihren Werken. Dann brach die Sonne durch ihre Prismen und warf Strahlen von Rot und Blau und Gelb auf Wabenstrukturen oder Steinkreise. Eigentlich war das im Haus die schönste Zeit.

"Früher haben mich ästhetische Fragen interessiert", sagte Bauermeister. "Politik hat mich eher abgeschreckt. Heute geht das nicht mehr. Heute muss man einschreiten." Zeitweise war sie so empört, dass sie alle Arbeiten aus Trumps Amerika "zurück in den deutschen Wald" holen wollte. Irgendwann hatte sie wieder eine New Yorker Galerie. Die Arbeit "Fuck the System", die in den 1960er Jahren ebendort entstand, wirkte wie eine Brücke.

Politischen und ästhetischen Fragen widmete sich auch Bauermeisters letzte große Arbeit. "Ich will die deutsche Flagge wieder auf den Kopf stellen. Das erdige Schwarz gehört nach unten, das transzendente Gold nach oben." Hierzu hat sie Unterschriften gesammelt und Gemeinden umgestaltete Fahnen geschenkt, die in ihrem zweiten Atelier in Reichshof-Oberagger entstanden sind.

Bis vor einigen Jahren konnte man Bauermeisters Atelier und Garten an jedem ersten Sonntag im Monat betreten. Nicht selten kredenzte die Künstlerin dabei ihre berühmte Kürbissuppe mit Ingwer. Gemacht aus Kürbissen aus dem eigenen Garten. Am Donnerstag (02.03.2023) ist Mary Bauermeister gestorben. Ihr Sohn schrieb auf Facebook, "she changed levels", wie sie angekündigt habe.

Mary Bauermeister. Zeichen, Worte, Universen, Kunstmuseum Villa Zanders, Bergisch-Gladbach, Ausstellungsansicht

"Ich mag es, wenn ich Dinge relativieren kann", sagte sie dementsprechend. "Wenn ich etwas schreibe oder zeichne und mehrere Linsen darüber setze, die alles vergrößern oder auf den Kopf drehen, dann vervieldeutige ich es. Darum geht es mir."

John Cage spielt: nichts

Geboren wird Bauermeister am 7. September 1934 in Frankfurt am Main. Die Mutter ist Sängerin, der Vater Anthropologe. Nach der Scheidung der Eltern zieht sie mit dem Vater ins Rheinland.

Obwohl mathematisch hochbegabt, läuft sie noch vor dem Abitur mit ihrer Kunstmappe davon und studiert unter anderem in Ulm bei dem Architekten Max Bill und in Stuttgart bei dem Fotografen Otto Steinert.

1956 bezieht Bauermeister in Köln ihr legendäres Atelier, das sie mit dem Haustürverkauf ihrer Pastelle finanziert. In der Lintgasse 28 trifft sich die Avantgarde zu experimentellen Performances.

Künstlerin Mary Bauermeister gestorben

WDR 5 Scala - aktuelle Kultur 02.03.2023 04:46 Min. Verfügbar bis 01.03.2024 WDR 5


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Hier inszeniert Otto Piene sein "Lichtballett", John Cage spielt mit "4’33" die Stille. Nam June Paik zersägt ein Klavier und shampooniert David Tudor den Kopf, während eine Tonbandcollage den Koreakrieg kritisiert. Diese das Genre sprengenden Aktionen bringen Bauermeister den Ruf ein, die "Mutter der Fluxus-Bewegung" gewesen zu sein.

"Ménage à trois"

Karlheinz Stockhausen (links) mit Freunden bei Mary Bauermeister, 1970er Jahre

Von Anfang an dabei ist der Pionier der elektronischen Musik Karlheinz Stockhausen, den Bauermeister 1957 kennenlernt und dessen Darmstädter Kompositionskurse sie 1961 besucht. Im selben Jahr beginnt Bauermeister mit Stockhausen und seiner Frau Doris eine "Ménage à trois".

1962, im Jahr ihrer ersten Einzelausstellung im Amsterdamer Stedelijk Museum, zieht sie mit der Familie nach New York, wo Jasper Johns, Robert Rauschenberg, Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely gute Freunde werden. Ein monatlicher Scheck der Galerie Bonino sichert Bauermeister finanzielle Unabhängigkeit.

Stockhausen und Bauermeister heiraten 1967. Im selben Jahr wird nach der Tochter Julika (1966) der Sohn Simon (1967) geboren, der wie der Vater Komponist wird und mit der Mutter zusammenarbeitet.

Die Wunderkammer

1972 kehrt Bauermeister nach Deutschland zurück. Von Stockhausen lässt sie sich 1973 scheiden: "um meine eigene Biografie zu leben", wie sie in ihrer Autobiografie "Ich hänge im Triolengitter" 2013 schreibt. Dort gibt sie auch an, ein weiter Grund für die Trennung sei gewesen, dass sie im Unterschied zu Stockhausen weitere Kinder hätte haben wollen.

Im selben Jahr erwirbt sie in Rösrath ein Grundstück, wo der Kölner Architekt Erich Schneider-Wessling ihr ein lichtdurchflutetes Holzhaus errichtet. Aus der Beziehung mit dem Komponisten David Johnson geht 1972 die Tochter Sophie hervor; 1974 bekommt sie mit dem israelischen Künstler Josef Halevi die Tochter Esther.

Nach dem Auszug der Kinder verwandelt Bauermeister das Haus und den stetig vergrößerten Garten mit seinen Prismen-Stelen, Gartenhaus-Bibliotheken, kultischen Versammlungskreisen und zu Gästezimmern umfunktionierten Roncalli-Zirkuswagen in eine museale Wunderkammer, in deren Zentrum ein Turm mit ihren Kleidern steht. Von hier aus bestückt Bauermeister bis zum Schluss Ausstellungen im In- und Ausland mit ihren Werken.

Mary Bauermeister 2018 in ihrem Atelier, Reichshof-Oberagger 2018

Landschaft im Echorohr

In Rösrath öffnet Bauermeister einmal im Monat ihr Domizil, organisiert Lesungen und Konzerte und schenkt den Gästen ihre legendäre Kürbissuppe aus. Manchmal spielte sie auf dem von ihr erfundenen "Echorohr" aus Blech und Bambus, über das sie - hinein singend und hinein lachend - "die feinstoffliche Signatur der Landschaft" hörbar machen will.

Da wohnt sie selbst schon auf einem umgebauten Gutshof im oberbergischen Reichshof-Oberagger, in dem sie ihre Linsenkästen baut, Steinspiralen klebt und in einer riesigen Scheune ihr letztes Großprojekt verfolgt, das die deutsche Flagge auf die Beine und den Kopf stellen, das Schwarz erden und das Gold in die Freiheit des Himmels entlassen will.

Linsen, Steine, Äste, Bergkristalle: Immer verknüpft Bauermeister Vorgefundenes mit Eigenem und bringt die Natur - oft mittels mathematischer oder musikalischer Systematiken - in eine neue Ordnung. Damit ist sie ihrer Zeit voraus, wie das MoMa und das Guggenheim-Museum, die schon früh Werke ankaufen, bald erkennen. Auf dem deutschen Kunstmarkt wird Bauermeisters Kunst aber lange als "Weiberkram" abgetan. Erst 2021 wird ihr der erste Kunstpreis des Landes NRW für ihr "herausragendes künstlerisches Gesamtwerk" verliehen.

Mary Bauermeister 2018 in ihrer Scheune, Reichshof-Oberagger 2018

"Hier ruht in Eile..."

Bauermeister selbst sah ihre Kunst vor allem auch als Quell ihrer Lebensenergie und schier unermüdlichen Schaffenskraft: Wenn sie krank werde, sagte sie einmal, dann müsse sie sich nur "in ihre Steinhaufen flüchten und Steine kleben", dann werde sie gesund. Am Ende aber konnten auch die Steine Bauermeister nicht mehr helfen. Die Künstlerin hatte ihre eigene Grabbskulptur entworfen und im Juni 2022 auch in den „Gärten der Bestattung“ von Pütz-Roth eingeweiht. Bauermeister starb am 2. März 2023 im Alter von 88 Jahren.

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