Russland feiert am 9. Mai den Sieg im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg der von Deutschland überfallenen Sowjetunion. "Gegen unser Mutterland ist ein echter Krieg entfesselt worden", behauptete Putin am Dienstag bei einer Militärparade in Moskau. "Die heutige Zivilisation steht erneut an einem entscheidenden Wendepunkt."
Erneut stellte der russische Präsident den Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem historischen Krieg gegen Hitler-Deutschland gleich: Damals wie heute habe sich Russland gegen Nazis zur Wehr setzen müssen.
Seine Rede beendete er mit den Worten: "Für Russland! Für unsere tapferen Streitkräfte! Für den Sieg!"
Kann Putin mit solchen Erzählungen die eigene Bevölkerung hinter sich versammeln? Oder ist der demonstrative Beifall aus der Bevölkerung nichts als Show, die eine wachsende Unzufriedenheit mit der Führung verbergen soll? Viele Fragen - und der Versuch einiger Antworten.
Wie steht die russische Bevölkerung wirklich zum Ukraine-Krieg?
Diese Frage lässt sich kaum mit ausreichender Sicherheit beantworten - wahrscheinlich noch nicht einmal von Beobachtern in Russland selbst. Eine demokratische Debattenkultur, mit deren Hilfe man eine Einschätzung wagen könnte, ist in Russland schon seit einiger Zeit nicht mehr möglich. Allerdings gibt es Hinweise, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung grundsätzlich die Ukraine-Politik des Kremls unterstützt.
Seit dem Ausbruch des Krieges führt das regierungsunabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada mit Sitz in Moskau regelmäßig Umfragen zur Einstellung der Bevölkerung zum Ukraine-Krieg durch. Die Ergebnisse sind eindeutig: Seit dem Beginn der Kampfhandlungen erklären regelmäßig zwischen 70 und 77 Prozent der Befragten ihre Unterstützung für die "Spezialoperation". Nur etwa 10 bis 12 Prozent der Befragten lehnen den Krieg ausdrücklich ab - meistens die gleiche Gruppe, die sich auch als Kritiker des Putin-Regimes betrachtet.
Nach Ansicht von ARD-Korrespondent Demian von Osten ist die breite Unterstützung für den Krieg auch Ausdruck eines russischen Patriotismus: "Solange der Krieg herrscht, muss man zusammenstehen." Auch zeige die staatliche Propaganda durchaus Wirkung. Allerdings zögen es auch viele Menschen in Russland vor, ihre Zweifel nicht allzu laut zu artikulieren. "In die Politik mischt man sich besser nicht ein. Das ist eine Lehre aus der Sowjetzeit, die sich tief in die russischen Gesellschaft eingegraben hat."
Glauben die Russen wirklich an die Erzählung, es gebe eine neue Bedrohung durch Nazis in der Ukraine?
Putin hat seit dem Beginn des Angriffskrieges betont, ein Ziel sei die "Entnazifizierung" der Ukraine. Was bei Beobachtern im Westen als ein ziemlich verrückter Vorwurf ankommt, klingt in russischen Ohren weit weniger abwegig. Tatsächlich hatten viele Ukrainer im Zweiten Weltkrieg mit den Besatzern aus Nazi-Deutschland kollaboriert und hatten teilweise sogar zusammen mit deutschen Soldaten gekämpft. Viele Ukrainer hatten den Einmarsch der Deutschen sogar als Befreiung erlebt. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass auch infolge der von Moskau erzwungenen Kollektivierung der Landwirtschaft in den 1930er-Jahren Millionen Ukrainer an Hunger gestorben waren.
Dennoch sei die Kollaboration vieler Ukrainer mit den Deutschen in der russischen Erinnerung noch sehr präsent, sagte Historiker Jan Behrends am Dienstag im WDR. Dass es in der Ukraine Nazis gebe, sei "eine Grundüberzeugung dieser Generation".
Haben Russen überhaupt eine Chance, sich gegen die Politik ihres Regimes zu wehren?
In Russland selbst - nur unter hohem persönlichem Risiko. Friedensdemonstrationen werden umgehend von der Polizei mit großer Härte aufgelöst und die Teilnehmer inhaftiert und angeklagt. Schätzungen zufolge haben allerdings seit dem Beginn des Angriffskriegs rund eine Millionen Menschen Russland verlassen. Ob alle Exilanten wirklich ausgesprochene Gegner des Putin-Regimes sind, sei aber unwahrscheinlich, meint ARD-Korrespondent von Osten. Viele seien einfach nicht bereit, ihr Leben und ihre Gesundheit in einem Krieg mit ungewissem Ausgang zu riskieren.
Für Putin sei die schwere Rekrutierung von Soldaten ein Problem, meint von Osten. Der Ruf zu den Waffen im Jahr 2022 habe vor allem eins gezeigt: "Eine erneute Mobilisierung würde erneut zu großen Unruhen in der russischen Gesellschaft führen."