Die Zahl der Missbrauchsopfer in der evangelischen Kirche und Diakonie ist deutlich höher als bislang angenommen: Laut einer am Donnerstag vorgestellten Studie sind seit 1946 in Deutschland nach einer Hochrechnung 9.355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden.
Bislang ging die evangelische Kirche von rund 900 Missbrauchsopfern aus. Die geschätzte Gesamtzahl der Beschuldigten liegt bei 3.497. In der Studie selbst wurden 1.259 Beschuldigte identifiziert - darunter 511 Pfarrpersonen.
Wissenschaftler: "Spitze der Spitze des Eisberges"
Die sogenannte Forum-Studie wurde von einem unabhängigen Forscherteam erarbeitet. Nach Angaben der Wissenschaftler zeigt die Untersuchung nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs".
Das ARD-Magazin Monitor hatte am Mittwoch berichtet, am Projekt beteiligte Forscher hätten bereits intern beklagt, dass sie für die Erhebung der Gesamtzahlen auf Daten aus Personalakten verzichten mussten. Gerade diese Akten hätten erst einen Überblick über das tatsächliche Ausmaß der Missbrauchsfälle liefern können.
EKD ist Auftraggeberin der Studie
Es ist die erste bundesweite Untersuchung zum Ausmaß von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie. Sie wurde 2020 von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Auftrag gegeben. Die Bischöfin und amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs sagte dem NDR:
Durch Prävention sensibilisieren
An der Frage, wie solche Fälle künftig verhindert werden können, arbeitet Juliane Arnold der Evangelischen Kirche Rheinland. Die Psychologin ist dort zuständig für Prävention in der "Ansprechstelle für den Umgang mit Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung". Sie sagte am Donnerstag im WDR 5 Morgenecho:
Angemessene Nähe ausloten
Dazu sei es notwendig, darüber zu reden, was angemessen ist. "Uns ist es wichtig zu vermitteln: Was ist angemessene Nähe und angemessene Distanz", sagte Psychologin Arnold dem WDR. Es sei zum Beispiel angemessen, bei einer Segenshandlung die Hand aufzulegen oder ein Kita-Kind zu trösten, wenn es Trost benötigt. Aber es sei völlig unangemessen, wenn Kirchen-Mitarbeitende ihre Bedürfnisse befriedigten. "Es geht darum, sensibel zu werden für die Grenzen des Gegenübers. Es geht nicht darum, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen."
Grundlage für Aufarbeitung
Die Evangelische Kirche von Westfalen hat die Veröffentlichung der Forum-Studie begrüßt. "Sie hilft uns dabei, Zusammenhänge besser zu verstehen und künftig alle Formen von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch noch wirksamer zu bekämpfen", sagte der Theologische Vizepräsident der Landeskirche, Ulf Schlüter, am Donnerstag in Bielefeld. Die Studie biete eine neue Grundlage für weitere systematische Aufarbeitungsschritte.
Das sieht auch Psychologin Arnold so: "Prävention lernt ja auch aus der Aufarbeitung – es geht um eine Haltung." Und es geht um Achtsamkeit und Respekt. "Natürlich sind wir alle verantwortlich, wenn wir etwas wahrnehmen." Das gelte nicht nur für den Bereich Kirche, sondern auch für die ganze Gesellschaft.
Weitere Fälle in Gladbeck
Unterdessen meldete der Kirchenkreis Gladbeck, Bottrop und Dorsten, dass dort konkrete Missbrauchsfälle bekannt geworden seien, die mutmaßlich noch gar nicht in der Statistik der Studie auftauchen. Der leitende Pfarrer Steffen Riesenberg sprach von drei Fällen, an die sich ehemalige Mitarbeiter aus dem Kirchenkreis erinnert hätten. Der Pfarrer selbst habe begonnen, zu recherchieren und sei in den Akten auch auf Hinweise gestoßen, die eine Geheimhaltung der Vorfälle sicherstellen sollten. Riesenberg will mutmaßliche Opfer sexualisierter Gewalt nun ermutigen, sich an den Kirchenkreis zu wenden.
Kindernothilfe
Auch die Kindernothilfe zeigte sich am Donnerstag entsetzt über die Forschungsergebnisse: "Es sind alarmierende Zahlen, die die Dringlichkeit nach konkreten Maßnahmen für Schutz vor Gewalt jeglicher Art in der Kirche deutlich machen", sagte Carsten Montag, Kindernothilfe-Vorstandsmitglied.
"Die Kirche muss Verantwortung übernehmen und einen Ort schaffen, an dem alle Mitglieder, ob groß oder klein, geschützt und geborgen sind", forderte er. Die Kindernothilfe ist als eingetragener Verein dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland angeschlossen.
Unsere Quellen:
- WDR-5-Morgenecho
- dpa
- epd
- KNA
- Pressemitteilung der Kindernothilfe
- Homepage der Evangelischen Kirche im Rheinland
Über dieses Thema berichtet der WDR am 25.01.2024 auch im Fernsehen, in der Aktuellen Stunde um 18.45 Uhr.